Von Manfred Müller
Am Montagmorgen gegen sechs Uhr ziehen vor den Eingängen der Gröditzer Stahlwerke die Streikposten auf. Für zwei Stunden müssen sich die Lieferfahrzeuge geduldig in einer Schlange einreihen. Die Zufahrten bleiben dicht, in rote Metaller-Leibchen gehüllte Gewerkschafter blockieren das Osttor. Aus einem Lautsprecherwagen der IG Metall werden die Streikenden mit Ostrock beschallt. „Jegliches hat seine Zeit“, singen die Puhdys, „leben und sterben und Frieden und Streit.“
Viel bleibt nicht übrig
In Gröditz stehen die Zeichen auf Streit. Mit einem zweistündigen Warnstreik wollen die Stahlwerker bei den aktuellen Tarifverhandlungen Druck auf die Arbeitgeberseite ausüben. Sieben Prozent Lohnerhöhung stehen an der Spitze des Forderungskataloges. Das klinge, als sei es sehr viel, erklärt IGM-Bezirksleiter Olivier Höbel. Aber jeder, der ein bisschen rechnen könne, wisse, dass selbst davon nicht viel im Portemonnaie der Beschäftigten zurückbleibe. Man müsse nicht nur die aktuelle Inflationsrate von zwei Prozent in Betrachtung ziehen, sondern auch die geplante Mehrwertsteuererhöhung, die explodierenden Energiepreise und die steigenden Gesundheitskosten, die in Zukunft der Arbeitnehmer allein tragen soll. Höbel verweist auf die günstige Konjunktursituation in der Stahlindustrie. Produktion und Verkauf brummen, während der Lohnanteil an den Gesamtkosten nicht einmal mehr 20 Prozent betrage.
Knapp 300 Beschäftigte aus der Schmiede, dem Elektrostahlwerk und dem Stahlguss-Betrieb haben sich in der Morgendämmerung zu einer Streik-Betriebsversammlung vorm Werktor eingefunden. Die Stimmung ist gelassen; für die gewerkschaftstreuen Gröditzer Stahlwerker bedeutet ein Warnstreik nichts Neues. Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Frank Kotscha schwört seine Mannschaft auf die Forderungen der IG Metall ein: „Die Stahlindustrie weiß nicht wohin mit dem Geld, und uns wollen sie mit drei Prozent, festgeschrieben auf 19 Monate, abspeisen. Das liegt unter der jährlichen Inflationsrate.“ Am kommenden Donnerstag wird in Berlin die nächste Tarifrunde für die Ost-Metaller eingeläutet. Kotscha lässt keinen Zweifel daran, dass die Gröditzer im Falle des Scheiterns zu härteren Auseinandersetzungen bereit sind. Er weiß eine streikerfahrene Mannschaft steht hinter sich. „Klar werde ich im Ernstfall auch vorm Betriebstor stehen“, sagt Vorarbeiter Gerd Ulbricht. „Diese Woche muss ich meine Öltanks auffüllen lassen. Dafür geht jetzt schon ein ganzer Monatslohn drauf.“
Auch aus den Zeithainer Röhrenwerken sind Kollegen herübergekommen, um den Gröditzern den Rücken zu stärken. Zeithain sei der effektivste Standort im gesamten Unternehmen Vallourec, erklärt Betriebsratsvorsitzender Reiner Bieder. Der Altersdurchschnitt der Beschäftigten liege allerdings bei 50 Jahren und werde noch weiter steigen. Deshalb müssten Tarifregelungen her, die den Älteren Arbeitszeitverkürzungen mit Teillohnausgleich einräumen. Das schaffe Platz für die Einstellung jüngerer Mitarbeiter.
„In diesem Punkt liegen wir gar nicht so weit auseinander“, erklärte Vallourec-Werkleiter Frank Lippert gestern am Telefon. „Mit 67 Jahren kann ich niemanden mehr im Walzwerk arbeiten lassen.“ Die Lohnforderungen der IG Metall allerdings hält Lippert, der bei den Tarifverhandlungen ebenfalls mit am Tisch sitzt, für inakzeptabel. Stattdessen plädiert er für einen moderaten Abschluss und zusätzlich für eine einmalige Honorierung der Belegschaften. Er wolle die Erfolge seines Unternehmens wie auch den Boom in der Branche gar nicht klein reden. Aber die Stahlproduktion sei ein zyklisches Geschäft: „Was wir in guten Zeiten vertraglich festmachen, schleppen wir in die schlechten Zeiten mit, und dann wird es eng für die Unternehmen.“
Die Löhne seien für die Firmen doch gar nicht mehr der entscheidende Kostenfaktor, widerspricht Metaller-Chef Höbel dieser Argumentation. Wenn man Lohnerhöhungen nicht in Form von Tabellenwerten festschreibe, säßen die Arbeitnehmer am Ende immer am kürzeren Hebel.