SZ +
Merken

Große Unruhe bei „Phänomen“

Am 17. Juni jährt sich zum 50. Male der Aufstand in der DDR. Auch in den Kreisen Zittau und Löbau kam es zu Betriebsversammlungen und Streiks. Ein Schwerpunkt lag in den Phänomen-Werken Seifhennersdorf und Zittau. Hier ein Bericht über das Seifhennersdorfer Geschehen.

Teilen
Folgen

Von Dr. Manfred Richter

Ich habe damals, 18-jährig, nach soeben abgelegter Facharbeiterprüfung als Betriebselektriker im VEB Kraftfahrzeugwerk Phänomen Zittau, Produktionsbereich Seifhennersdorf, gearbeitet. Die rund 300 Beschäftigten des Werkes Seifhennersdorf stellten für einen Schnell-Lastkraftwagen des Typs „Granit 27“ Blechteile wie Tanks, Kotflügel und Türen her. Mir selbst oblag als „Stationselektriker“ die ziemlich verantwortungsvolle Aufgabe, mit oder ohne Zuschaltung unseres Notstromaggregates besonders in den Spitzenzeiten und bei Netz-Ausfall die Stromversorgung des Betriebs und seiner einzelnen Abteilungen sicherzustellen.

Im Laufe des 16. Juni berichtete der Rundfunksender Rias Berlin, dass die Bauarbeiter auf der Stalin-Allee Ostberlins ihre Arbeit nieder gelegt hatten und in einem großen Demonstrationszug in Richtung des Stadtzentrums zum Sitz der Regierung marschierten. Die Nachricht schlug bei uns wie eine Bombe ein und elektrisierte uns. Rias war die einzige in der DDR überall im Rundfunk empfangbare und daher am meisten gehörte Informationsquelle aus dem Westen. Der Sender wurde deshalb von der SED wie die Pest gehasst und sein Programm mit starken Störsendern überlagert.

Den ganzen Abend über hingen wir an dem jaulenden und kreischenden Radio, um den neuesten Stand der Dinge zu erfahren.

Am nächsten Morgen herrschte auch in unserem Betrieb große Unruhe. Die Arbeit kam mehr und mehr zum Erliegen, und die Beschäftigten standen in den Werkstätten und auf dem Betriebshof in Gruppen zusammen, um die Entwicklung zu diskutieren. Am späten Vormittag beschlossen wir in einer kleinen Gruppe von Aktiven, der auch ich mich angeschlossen hatte, die ganze Belegschaft am Nachmittag zu einer großen Protestversammlung zusammenzurufen. Sie sollte im Obergeschoss des Hauptgebäudes, wo Feinblechnerei und Werkzeugbau untergebracht waren, stattfinden. Der Arbeitsprozess war inzwischen zwar ohnehin so gut wie gänzlich zusammengebrochen, doch sollte erreicht werden, dass auch wirklich alle Beschäftigten an der Versammlung teilnahmen.

Um sicher zu stellen, dass die Produktion gänzlich ruhte, übernahm ich als Stationselektriker den Auftrag, notfalls im ganzen Betrieb den Strom abzuschalten. Zu meinem Glück standen aber tatsächlich alle Abteilungen still, und die im Betrieb Beschäftigten erschienen vollzählig. Vorn, an einem quer gestellten längeren Tisch, saßen Vertreter der SED-Betriebs- und Kreisleitung und wohl auch der Kreisdienststelle des Staatssicherheitsdienstes. Ein Redner aus ihrer Mitte begann, die angeblich bereits erreichten „sozialistischen Errungenschaften“ zu beschwören und den Aufstand als „das üble Machwerk kapitalistischer Kriegstreiber und Konterrevolutionäre“ zu apostrophieren. Dabei wurde er immer wieder von höhnischen Lachsalven der Belegschaft unterbrochen, und Einzelne aus ihrer Mitte widerlegten seine Phrasen Stück für Stück.

Als er uns das Märchen der schier grenzenlosen Chancen- und Bildungsgleichheit in der DDR für alle jungen Menschen offerierte, unterbrach und korrigierte auch ich ihn unter dem Beifall der Anwesenden mehrmals, war mir als Kind einer Beamtenfamilie im „Arbeiter- und Bauernstaat“ doch erst wenige Jahre zuvor der Zugang zu einer Oberschule und soeben erst die Entsendung zum Studium an einer Ingenieur-Fachschule versagt worden. Schließlich verlangten wir von den Vetretern der SED, die gänzlich fruchtlosen Propagandatiraden zu beenden. Wir beschlossen, eine Resolution an die SED-Parteiführung unter Walter Ulbricht zu verfassen. Die Einwendungen der SED-Funktionäre dagegen wiesen wir ab. Sehr wohl mussten sie der Belegschaft verbindlich zusagen, den Resolutionstext an das SED-Politbüro weiterzuleiten. Der Kern der aus unserer Mitte kommenden und umgehend zu erfüllenden Forderungen lautete:

Rücktritt der derzeitigen Regierung;

Anberaumung freier und geheimer Wahlen zu einer neuen Volkskammer;

Zulassung politischer Parteien zu den Wahlen, die aus der Mitte der Bevölkerung heraus neu gegründet werden würden;

Öffnung der Grenzen zu Westdeutschland und Zulassung freien Reiseverkehrs;

Beendigung willkürlicher Verhaftungen politisch Andersdenkender;

Freilassung aller in DDR-Zuchthäusern eingesperrter politischer Häftlinge;

Verhandlungen mit der Sowjetunion mit dem Ziel der Freilassung aller restlichen deutschen Kriegsgefangenen;

das Recht der uneingeschränkten Meinungsfreiheit;

Zulassung freier, unzensierter Zeitungen und Rundfunksendungen sowie

sofortiges Abschalten der Störungen westlicher Rundfunksendungen. (wird fortgesetzt)