Von Reinhard Leue
Wo findet man eine über hundertjährige Kastanie, die einen Stammumfang von drei Metern hat und über zehn Meter hoch ist, und deren ausladende Krone etwa acht Meter misst? Sie befindet sich im Martinshof Rothenburg und wurde zwischen den Jahren 1885 und 1890 gepflanzt, als das Gelände noch eine Tonwarenfabrik beherbergte. Dieser Baum hat die gesamte Geschichte der diakonischen Einrichtung Zoar-Martinshof miterlebt, alle Höhen und Tiefen. Hunderte von Menschen, gesunde und behinderte, junge und alte, sind an ihr vorbeigegangen und haben sich im Frühjahr über die Blütenkerzen und im Herbst über die glänzenden Kastanien gefreut, aus denen man früher sogar Stärke gewonnen hat.
Im Jahre 1898 begrüßte sie schon Pastor Martin von Gerlach, als er mit vier Diakonen und fast 30 Diakonenschülern aus Kraschnitz, nördlich von Breslau, hier eintraf, um Zoar zu gründen. Ab 1899 kamen jährlich bis zum heutigen Tag behinderte und alte Menschen nach Zoar-Martinshof, für die diese Einrichtung zur Heimat wurde. Aber auch junge Männer kamen immer wieder, um sich zum Diakon ausbilden zu lassen. Unterdessen hat die Kastanie auch den neuen Pfarrer als Leiter miterlebt. In den Jahren 1897, 1958 und 1981 stand sie durch Neiße-Hochwasser plötzlich im Nassen und musste mit ansehen, wie die ganze Einrichtung im wahrsten Sinne des Wortes „ersoff“.
Aber das war noch nicht das Schlimmste. In den Jahren 1941/42 wurde der Martinshof zum Juden-ghetto, und der Baum sah die armen Menschen, wenn sie in Vernichtungslager geschafft wurden. Dann tobte im Frühjahr 1945 der Krieg um den Martinshof. Seltsamerweise wurde die Kastanie nicht von den sowjetischen Granaten getroffen, sondern blühte im Mai 1945, so als wäre nichts geschehen.
Anschließend kam die große Not- und Hungerzeit, der sie trotz Kälte und Brennstoffmangel nicht zum Opfer fiel. Es gibt ein Foto aus dem Jahre 1903, auf dem unsere Kastanie schon zu sehen ist, und jetzt mag sie staunen über einen total erneuerten Martinshof, in dem auch weiterhin reges Leben herrscht und seit diesem Jahr Stadtbürger unter ihr zum provisorischen Ärztehaus wandern, um ärztliche Hilfe zu erfahren. Die Straße an ihr vorbei wurde bereits 1932 mit einer Zementdecke befestigt – von Arbeitslosen.