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Gymnasium ist kein Muss

Großstädte klagen, dass alle Kinder unbedingt aufs Gymnasium wollen. In Görlitz behalten die Oberschulen die Oberhand.

Von Susanne Sodan
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Um den Eltern und Kindern die Entscheidung ein bisschen zu erleichtern, veranstalten die Görlitzer Schulen immer Tage oder Abende der offenen Tür, hier bei der Freien Evangelische Oberschule.
Um den Eltern und Kindern die Entscheidung ein bisschen zu erleichtern, veranstalten die Görlitzer Schulen immer Tage oder Abende der offenen Tür, hier bei der Freien Evangelische Oberschule. © Pawel Sosnowski

In die Winterferien haben die Viertklässler der Görlitzer Grundschulen nicht nur ihr Halbjahreszeugnis mit nach Hause gebracht, sondern auch die Bildungsempfehlung. Ob es kommendes Schuljahr an einer Oberschule oder einem Gymnasium weitergehen soll, darüber müssen sachsenweit nun etwa 33 500 Viertklässler und ihre Eltern entscheiden, bis zum 8. März. Die Bildungsempfehlung ist inzwischen, was der Name sagt: eine Empfehlung, keine Pflicht mehr. Einerseits gestaltet sich das Schulsystem damit offener. Andererseits: Kommt damit der große Run auf die Gymnasien wie in anderen deutschen Städten?

In der Oberlausitz jedenfalls nicht. Im vorigen Jahr, also für das aktuelle Schuljahr, hatten sich in den Landkreisen Bautzen und Görlitz über 1 600 Schüler für das Gymnasium entschieden, über 2 500 Schüler für eine Oberschule, so die Zahlen vom Bautzener Standort des Landesamtes für Schule und Bildung, der für beide Kreise zuständig ist. Lediglich 162 Schüler wurden für das aktuelle Schuljahr an den Gymnasien ohne entsprechende Bildungsempfehlung aufgenommen, teilt Lasub-Sprecher Jens Drummer mit. Auch im Vergleich zu Vorjahren ist nur eine leichte Steigerung der Zahlen am Gymnasium festzustellen. Im Kreis Görlitz haben sich voriges Jahr etwa 35 Prozent fürs Gymnasium entschieden, vor fünf Jahren waren es 33,6.

Den Eindruck bestätigt Wolfgang Mayer, Schulleiter des Joliot-Curie-Gymnasiums. Einen Run kann er nicht feststellen. Im ersten Jahr, in der die Bildungsempfehlung nicht mehr bindend war, war es ein Schüler, der mit Oberschul-Empfehlung nach der vierten Klasse ans Curie-Gymnasium wechselte, im aktuellen Schuljahr seien es zwei. Mayers Eindruck ist, dass die Eltern auf die Einschätzung der Grundschulen vertrauen, und ihre Entscheidung weiterhin nach der Bildungsempfehlung treffen. Insgesamt ist die Zahl der Schüler an den beiden Görlitzer Gymnasien gestiegen, von 186 neuen Fünftklässlern im Schuljahr 2017/18 auf 214 Fünftklässler im aktuellen Schuljahr. Allerdings ist auch die Schülerzahl an den vier Oberschulen gestiegen. Der Hintergrund dafür, dass eine neue, fünfte Oberschule in Görlitz gebaut wird.

Beim Augustum-Annen-Gymnasium ist die Neuregelung bei den Bildungsempfehlungen stärker spürbar. Im aktuellen Schuljahr kamen etwa zehn Schüler ohne entsprechende Bildungsempfehlung in die fünften Klassen des Gymnasiums, erzählt der ehemalige Schulleiter Friedhelm Neumann. Er ist kurz vor den Winterferien in Ruhestand gegangen. Gegen ein offenes Bildungssystem hat er nichts. Er kritisiert aber den großen Verwaltungsaufwand für die Schulen durch die Neuregelung. Die Schüler, die mit der Oberschul-Empfehlung dennoch ans Gymnasium wollen, müssen einen Test in drei Schwerpunktfächern absolvieren. „Bei uns war es bisher so, dass dieser Test die Bildungsempfehlung meist bestätigt hat“, so Neumann. Danach steht ein Auswertungsgespräch mit den Eltern an. Aber beides, Leistungsermittlung und Gespräche, haben keine bindende Wirkung. „Es führt vielleicht dazu, dass sich die Eltern noch mal zusätzlich Gedanken machen.“ Aber am Ende gilt die Entscheidung der Eltern. Ob die Schüler dann am Gymnasium gut mitkommen oder nicht, lässt sich noch nicht sagen.

Einen Run oder ein signifikantes Umschwenken sieht auch Neumann mit den zehn Kindern nicht. Viel häufiger komme es vor, dass Viertklässler mit einer Empfehlung fürs Gymnasium auf die Oberschule wechseln, „das ist eine erkleckliche Gruppe.“ Er findet, „wenn man eine Chance bekommt, dann sollte man die nutzen und nicht in den Wind schlagen.“ Laut der Lasub-Zahlen wechselten sachsenweit rund 15 Prozent der Kinder mit Gymnasiums-Empfehlung an eine Oberschule.

Dieser Weg war auch früher schon möglich und sei nicht selten, bestätigt Uta Dietzel, Leiterin der Melanchthon-Oberschule. „Manchmal sagen die Eltern: ‚Unser Kind ist zu Hause noch sehr verspielt‘ und entscheiden sich, dass es erst mal an die Oberschule gehen und vielleicht nach der fünften oder sechten Klasse ans Gymnasium wechseln soll.“ Tatsächlich sei der Wechsel Ende der fünften oder sechsten Klasse aber sehr selten. Viel häufiger: der Weg übers berufliche Gymnasium. „Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht.“ Was Uta Dietzel davon hält, dass Bildungsempfehlung nicht mehr bindend ist? „Mir ist wichtig, dass wir ein durchlässiges Bildungssystem haben. Ich finde, nach der vierten Klasse müssen noch nicht alle Weichen gestellt sein.“

In der Praxis habe sich die neue Freiheit bei der Bildungsentscheidung bei der Melanchthon-Oberschule noch nicht bemerkbar gemacht. „Bei den Anmeldungen sind wir ziemlich konstant geblieben.“ Ihr sind auch keine Fälle bekannt, dass ein bei ihr für die fünfte Klasse angemeldeter Schüler sich schließlich doch fürs Gymnasium entschieden und die Oberschul-Anmeldung zurückgezogen hätte. „Das spielte bisher bei uns gar keine Rolle“, so Uta Dietzel.

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