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Hier wird der Halle-Attentäter von der Polizei gefasst

Stephan B. wurde auf einer Bundesstraße festgenommen – von zwei Revierpolizisten aus Zeitz. Jetzt liegen exklusive Bilder des Zugriffes vor.

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Der Attentäter Stephan B. liegt am Rande der B91 hinter einer Beton-Leitplanke auf dem Bauch. Zwei Polizisten, davon einer in Zivil, fixieren ihn am Boden. Daneben (mit Helm) ein Angehöriger eines Sondereinsatzkommandos.
Der Attentäter Stephan B. liegt am Rande der B91 hinter einer Beton-Leitplanke auf dem Bauch. Zwei Polizisten, davon einer in Zivil, fixieren ihn am Boden. Daneben (mit Helm) ein Angehöriger eines Sondereinsatzkommandos. © Stern/privat

Von Stern-Reporter Tilman Gerwien

Es sind die Sekunden, in denen ein Verbrechen sein Ende findet, ein Drama, das ganz Deutschland schockiert hat: Der Attentäter von Halle liegt am Rande einer Bundesstraße, fixiert von zwei Polizisten, zusätzlich bewacht von Angehörigen einer Spezialeinheit. Dem stern liegen exklusiv Fotos des Zugriffes vor. Über die Geschehnisse bis zur Festnahme existiert inzwischen auch ein präzises Minutenprotokoll.

Exklusives Foto von der Festnahme des Halle-Attentäters

Mittwoch, der 9. Oktober, 13.35 Uhr, an der Bundessstraße 91 bei Wersch: Zwei Beamte, einer davon in Zivil, drücken Stephan B. bäuchlings auf den Boden. Offenbar sind dies jene beiden Polizisten aus der nahegelegenen Kleinstadt Zeitz, die nach neuesten Erkenntnissen den unmittelbaren Zugriff durchführten. Daneben stehen mehrere Polizeiwagen und gerade eingetroffene Spezialeinsatzkräfte. 

Zu erkennen ist deutlich das letzte Fluchtfahrzeug des Täters, ein elfenbeinfarbenes Taxi vom Typ Mercedes E-Klasse, das er kurz zuvor in der Ortschaft Wiedersdorf mit vorgehaltener Schusswaffe erpresst hatte. Im Bild auch der rote Lkw, der dem zweifachen Mörder von Halle den Weg versperrte und so eine Fortsetzung der Flucht verhinderte. Polizeibeamte beginnen mit ersten Absperrmaßnahmen. 

Ein Unbeteiligter hat diese Fotos gemacht, die dem stern exklusiv vorliegen. Es sind die ersten Bilder, die das dramatische Geschehen aus wenigen Metern Entfernung zeigen. Stephan B.'s Weg in den Wahnsinn, der zwei Menschen das Leben kostete und zwei weitere schwer verletzt zurückließ – er ist in diesem Moment an sein Ende gekommen. Nach und nach lassen sich die Lücken bei der Rekonstruktion des Attentats von Halle schließen. Der Festnahme ging eine fast 80 Kilometer lange Verfolgungsfahrt voraus. 

Dabei hatte die Polizei zwischendurch jede Fühlung zum Täter verloren. Das jedenfalls soll der Innenminister von Sachsen-Anhalt, Holger Stahlknecht (CDU) in einer nicht-öffentlichen Sondersitzung im Innenausschuss des Landtages eingeräumt haben, berichten übereinstimmend mehrere Abgeordnete. Festgenommen wurde Stephan B. am Ende nicht etwa von Spezialkräften, sondern von zwei Revierpolizisten aus der Kleinstadt Zeitz, erzählt der SPD-Innenexperte Rüdiger Erben. 

Ein weiteres Foto, das die Festnahme von Stephan B. zeigt, mit deutlich mehr Spezialeinsatzkräften vor Ort
Ein weiteres Foto, das die Festnahme von Stephan B. zeigt, mit deutlich mehr Spezialeinsatzkräften vor Ort © Stern/privat

Nach dem Terroranschlag mit zwei Toten waren auch Fragen aufgekommen, wann die Polizei wo war – und, ob die Einsatzkräfte zu spät reagiert hatten. Am Montag rekonstruierte das Innenministerium von Sachsen-Anhalt in einer Pressekonferenz den Ablauf des Polizeieinsatzes, später ergänzte es auf Anfrage weitere Details. Der stern veröffentlicht das offizielle Minutenprotokoll hier in der Übersicht:

  • ab 12.01 Uhr: Ein schwer bewaffneter Mann versucht, in die Synagoge zu kommen, schießt mehrfach auf die Eingangstür, hinterlässt selbst gebastelte Sprengsätze an der Synagoge und erschießt eine 40 Jahre alte Passantin.

  • 12.03 Uhr: Ein Notruf über die 112 geht bei der Rettungsleitstelle ein. Ein Anrufer berichtet, dass etwa 100 Gläubige in der Synagoge sind und davor ein bewaffneter Täter schießt. Es wird von der Toten vor der Tür berichtet.

  • 12.04 Uhr: Die Rettungsleitstelle informiert die Polizei, es werden weitere Informationen vom Anrufer aufgenommen. Parallel geht ein weiter Notruf ein. Der Anrufer berichtet von dem Angriff auf die Synagoge und einer leblosen Frau. Er gibt das Kennzeichen vom Fluchtwagen des Täters durch.

  • 12.06 Uhr: Die Funkwagen in Halle werden alarmiert und zum Tatort geschickt. Im Polizeirevier Halle sind zu dieser Zeit insgesamt sieben Streifenwagen im Einsatz. In den benachbarten Kreisen sind 19 weitere Streifenwagen unterwegs, davon je fünf im Saalekreis, im Kreis Mansfeld-Südharz sowie im Burgenlandkreis sowie vier bei der Autobahnpolizei.

  • 12.07 Uhr: Der Täter verlässt den Tatort vor der Synagoge.

  • 12.09 Uhr: Der Täter kommt am Dönerladen an der Ludwig-Wucherer-Straße an und bleibt dort bis 12.17 Uhr. Er nimmt den Laden unter Beschuss und erschießt einen 20-jährigen Mann.

  • 12.11 Uhr: Der erste Funkstreifenwagen trifft an der Synagoge ein.

  • 12.12 Uhr: Der zweite Funkstreifenwagen trifft an der Synagoge ein. Bis 12.16 Uhr sind vier Polizeiwagen vor Ort, darunter ein ziviles Auto.

  • 12.13 Uhr: Per Funk geht das Kennzeichen des Fluchtwagens an alle Polizisten, um nach dem Fahrzeug zu fahnden.

  • 12.15 Uhr: Landesweit wird Polizeialarm ausgelöst. Alle verfügbaren Kräfte werden nach Halle abbeordert. Parallel dazu wird das Spezialeinsatzkommando des Landeskriminalamts alarmiert, das in Magdeburg sitzt.

  • 12.15 Uhr: Ein Streifenwagen blockiert an einer Seite die Ludwig-Wucherer-Straße. Ein zweiter steht daneben. Der Täter schießt auf die Beamten. Die Beamten schießen zurück.

  • 12.16 Uhr: Der Schütze wird von einer Kugel der Beamten am Hals getroffen.

  • 12.17 Uhr: Der Täter flüchtet in eine Seitenstraße. Als die Besatzung des
    beschossenen Streifenwagens ihm folgt, ist das Fluchtauto nicht mehr zu sehen. Ein Passant deutet in eine Straße, die Beamten folgen dem Hinweis, finden das gesuchte Auto aber nicht wieder.

  • 12.19 Uhr: Der Täter fährt noch einmal über den Fußweg an der Synagoge vorbei und wird dort von einer Streifenwagenbesatzung gesehen, die vor Ort gerade ihre Schutzwesten anlegt und die Synagoge sichert. Die Beamten geben die Sichtung des Täters an ihre Kollegen weiter. Doch zunächst kann der Mann entkommen.

  • 12.20 Uhr: Über die Mietwagenfirma erfährt die Polizei den Namen und die Handynummer des Mannes, der das Auto gemietet hat. Eine Ortung der Nummer wird von der Staatsanwaltschaft angeordnet.

  • 12.21 Uhr: Per Notruf bei der Rettungsleitstelle wird mitgeteilt, dass es drei Tatverdächtige geben könnte. Die Einsatzkräfte werden informiert.

  • 12.28 Uhr: Ein Polizeihubschrauber startet in Magdeburg und fliegt nach Halle. Dort trifft er gegen 12.45 Uhr ein.

  • 12.46 Uhr: Es wird die sogenannte Ringalarmfahndung ausgelöst, das heißt, die Polizisten suchen verstärkt auch außerhalb der Stadtgrenzen nach dem oder den Tätern.

  • 13 Uhr: Inzwischen sind 28 Funkstreifenwagen in Halle unterwegs, um nach dem Täter oder den Tätern zu fahnden. Dazu gibt es Unterstützung von Polizisten aus Sachsen sowie der Bundespolizei.

  • 13 Uhr: Über den Notruf meldet eine Anruferin, dass in Landsberg, Ortsteil Wiedersdorf, ein Mann auf ihren Wagen geschossen hat. Die Anruferin berichtet, dass ein Mann versucht hat, ihr Auto zu kapern, was ihm nicht gelang. Sie wisse nicht, ob sich der Täter noch im Ort befinde.

  • 13.01 Uhr: Die Polizeikräfte werden über Funk über die gemeldeten Schüsse informiert.

  • 13.03 Uhr: Die Rettungsleitstelle informiert die Polizei darüber, dass in Wiedersdorf ein Taxi geraubt worden ist.

  • 13.05 Uhr: Das alarmierte Spezialeinsatzkommando aus Magdeburg kommt in Halle an. Es gibt Meldungen, wonach es eine Geiselnahme in einem Einkaufsmarkt gibt. Das SEK geht dem nach. Die Meldung stellt sich als falscher Alarm heraus.

  • 13.08 Uhr: Die ersten Polizisten kommen in Wiedersdorf an.

  • 13:09 Uhr: Ein Anrufer berichtet, dass der Täter mit einem Taxi geflüchtet ist.

  • 13.16 Uhr: Auf der Autobahn 9 bei Günthersdorf erkennt ein Polizeiwagen im Gegenverkehr das gesuchte Taxi und meldet die Sichtung an die Kollegen. Die Beamten wenden an der nächsten Ausfahrt und fahren nun ebenfalls in die Gegenrichtung.

  • 13.31 Uhr: Die Besatzung des Funkstreifenwagens, der auf der Autobahn das Taxi verfolgt, teilt mit, dass es bereits am Kreuz Rippachtal den Sichtkontakt zum Fluchtauto verloren hat.

  • 13.32 Uhr: Ein Funkstreifenwagen des Revierkommissariats Zeitz meldet, dass sie das Fluchtfahrzeug an der Bundesstraße 91 bei Werschen gesichtet haben. Das Fahrzeug rammt ein Auto, fährt über eine rote Ampel und biegt in einen einspurigen Baustellenbereich ein.

  • 13.35: Der Fluchtwagen des Täters kollidiert frontal mit einem Lastwagen. Der Fahrer versucht, zu Fuß zu flüchten und wird von den Revierpolizisten festgenommen.

  • 14 Uhr: Die Polizei findet in Wiedersdorf den abgestellten Mietwagen, mit dem der Täter seine Flucht begonnen hatte.

  • 18.37 Uhr: Die Warnung an die Bevölkerung wird aufgehoben. Die Sicherheitsbehörden gehen nach einem Großeinsatz mit mehr als 700 Beamten und umfangreichen Fahndungsmaßnahmen davon aus, dass bei dem Terroranschlag ein einzelner Täter unterwegs war. Zwischenzeitlich konnte aufgrund zahlreicher Notrufe zu gehörten Schüssen im Stadtgebiet nicht ausgeschlossen werden, dass es mehrere Täter gibt. 

Dieser Beitrag ist eine Übernahme des Magazins Stern.