Von Jörg Marschner
Die Nervosität ist unübersehbar. „Verdammt, wo ist denn dieses Blatt?“, schimpft Michael Hoffmann und blättert zum wiederholten Mal den dicken Ordner auf seinem Schoß durch. Er sitzt auf der langen Bank vorm Saal11 des Dresdner Sozialgerichts. Gleich wird er aufgerufen werden. Er sucht ein ganz spezielles Schreiben der Arge Dresden, der Arbeitsgemeinschaft aus Arbeitsagentur und Sozialamt. Endlich hat er es in dem dicken Wust gefunden. „Hier, sehen Sie“, sagt er zu der Dame von der Rechtsschutzversicherung, „damit geben die praktisch einen Behördenfehler zu.“ Margit Körlings liest das Blatt und meint, er solle sich da nicht so sicher sein.
Für den 32-Jährigen geht es um viel, um genau 1224,35 Euro. Die will die Arge von ihm zurückhaben. „Wir stecken echt in der Klemme“, sagt Hoffmann. Nachdem er zweieinhalb Jahre über eine Zeitarbeitsfirma in verschiedene Jobs vermittelt wurde, ist er seit Januar wieder ohne Arbeit. Scheiß Krise! Tochter Leonie ist jetzt ein Jahr alt, und die Elternzeit seiner Frau ist vorbei: „Da zählt bei uns jeder Euro.“
Ein erleichterter Familienvater
So wie Michael Hoffmann ziehen Tausende Hartz-IV-Empfänger vor die Sozialgerichte. Bei dem einen bleibt die Wohnung kalt, weil er kein oder zu wenig Geld ausbezahlt bekommt, andere haben angeblich zu viel Geld bezogen. Das Dresdner Sozialgericht wird geradezu von einer Klageflut überrollt. 6731 Verfahren gingen voriges Jahr ein, 50 Prozent mehr als 2007.
„Herr Hoffmann, kommen Sie bitte?“ Hans von Egidy, schwarze Robe, weißes Hemd, weiße Fliege, ist Vorsitzender Richter der 10.Kammer des Dresdner Sozialgerichts. Er könnte auch den Lautsprecher nutzen, aber er lädt seine Fälle lieber persönlich in den Saal, sehr freundlich, aber nicht anbiedernd. Mit beinahe sanfter Stimme trägt der Richter den Sachverhalt vor. Knackpunkt in diesem Fall ist ein Mietzuschuss, der von der Stadt als Zusatzförderung gezahlt wurde. Pflichtgemäß hatte Hoffmann diesen Zuschuss schon beim ersten Antrag auf Hartz-IV-Grundversorgung angegeben. Folgen hatte das keine, bewilligt wurden ihm 590,44Euro. Erst fast zwei Jahre später – im September 2006 – forderte die Arge ihre Zahlung zurück. Hoffmanns Widerspruch blieb erfolglos, im Januar 2007 klagte er deshalb gegen die Arge. Über ein Jahr später nun die Verhandlung.
Schnell geht es tief in die Juristerei, die Paragrafen 45 und 48 im „Zehnten Buch Sozialgesetzbuch“ werden bemüht, auch das Wirtschaftsrecht. Schließlich kann Michael Hoffmann aufatmen. „Es wäre an der Arge gewesen, wegen des Mietzuschusses nachzufragen, hier ist relativ viel schiefgelaufen“, stellt Richter Hans von Egidy fest und legt eine neue Berechnung vor. Der Rechtsvertreter der Arge meint nun, darin einen Fehler entdeckt zu haben. Sofort werden auf allen Seiten die Taschenrechner bemüht, doch es bleibt dabei: Die Arge reduziert ihre Rückzahlungsforderung um fast tausend auf 287,41Euro.
In einer kurzen Verfahrenspause braucht es noch etwas Überredung, damit Michael Hoffmann dem Vergleich zustimmt. „Da bin ich doch der Gelackmeierte“, ärgert er sich. „Ist doch besser als nix“, redet ihm sein Vater zu. „Na gut, ich mach’s“, sagt Michael Hoffmann, „ich will endlich Ruhe haben.“Und als die beiden das Gericht verlassen, ist auch der Sohn erleichtert.
Wieder ein Fall gelöst. Hans von Egidy ist seit dreizehn Jahren Richter und hat sich auf Hartz-IV-Fälle spezialisiert. Er hat völlig Verzweifelte kennengelernt und auch Vielfachkläger, für die es fast ein Sport ist, den Sozialstaat voll auszureizen. „Letztere sind allerdings die Ausnahme. Die meisten befinden sich in einer wirklichen Notlage.“ Zwei, drei Stunden Aktenstudium setzt von Egidy an für einen Prozess. Dann habe er zwar oft eine Meinung, aber es gibt immer wieder Überraschungen. „Viele Kläger tun sich schwer, sich schriftlich auszudrücken, und einen Rechtsbeistand haben sie oft nicht, da bringt die Verhandlung manchmal völlig Neues“, sagt er.
Fast die Hälfte der Prozesse an seiner Kammer endet zumindest mit einem teilweisen Erfolg der Kläger. Im 45-Minuten-Takt ruft der Richter die Prozessbeteiligten auf, um unter dem Wappen des Freistaates Recht zu sprechen. Zweimal geht es an diesem Tag ziemlich schnell. In diesen Fällen hat das Bundessozialgericht mit Grundsatzurteilen die Rechtslage geklärt. So eindeutig, dass die Kläger ihre Klage zurücknehmen. Meist aber sind die Fälle komplizierter.
Ein glücklicher Azubi
Ralf Petzold ist ein kräftiger junger Mann, er lernt Koch in Pirna. Als er den Saal11 verlässt, ist er rundum glücklich. Die Drohung, 1378,88 Euro zurückzahlen zu müssen, weil er im Jahr 2006 neben HartzIV zu Unrecht auch Bafög bezogen habe, ist vom Tisch. Wie hätte er das auch machen sollen bei 619Euro Einkommen aus BaföG und Kindergeld, von denen Miete, Schulgeld und Monatskarte zu zahlen sind. Solche Fragen aber sind für das Gericht eher unerheblich, zumindest haben sie nichts mit Recht oder Unrecht zu tun. Für Richter von Egidy zählen andere Fakten, nämlich die komplizierten Verwaltungsprozesse: Die Arge hatte Ralf Petzold im Oktober 2006 ein sogenanntes Anhörungsschreiben geschickt. Er reagierte mit Einspruch, der von der Arge in einem Widerspruchsbescheid als unzulässig verworfen wurde. Der Richter rügt nun dieses Vorgehen: „Es war formal falsch, den Einspruch gleich mit einem Widerspruchsbescheid zu beantworten.“ Außerdem sei hinterher nichts mehr passiert und der Rückforderungsbescheid offensichtlich vergessen worden. Jetzt sei es dafür zu spät. Und an den Kläger gewandt, fährt der Richter fort: „Da haben Sie Glück gehabt. Sie können jetzt guten Mutes nach Hause gehen. Sie müssen die Klage nur noch offiziell zurücknehmen.“ Das tut Ralf Petzold gern, er denkt schon daran, wie er mit seiner Verlobten ihre kleine Wohnung hübscher einrichten könnte.
Hans von Egidy macht nicht den Eindruck, als sei er unzufrieden mit diesem Ausgang. „Man wünschte sich schon manchmal mehr Genauigkeit in der Arbeit der Verwaltung“, sagt er. Häufig verstehen die Bürger Entscheidungen der Behörden nicht, das treibt sie zu den Sozialgerichten.
Der letzte Kläger dieses Tages hält sich in Frankreich auf. Seine Mutter Sylke Johne, eine durchaus resolute, aber im Moment ziemlich aufgeregte Frau, vertritt ihn mit Vollmacht. Ihr Sohn Sven war lange Zeit arbeitslos, hat sich dann aber zur Servicekraft für Windkraftgeräte qualifiziert. Der 28-Jährige klagt, weil ihm die Arge im Jahr 2006 die Hartz-IV-Leistung für drei Monate rigoros auf null kürzte. Er war damals als 1,50-Euro-Jobber im Straßenbahnmuseum tätig und soll sich bei einem Streit mit seinem Vorgesetzten verbal vergangen haben, daraufhin wurde er vom Sächsischen Umschulungs- und Fortbildungswerk entlassen. Johne legte Widerspruch gegen die Sanktion der Arge ein, der wurde abgewiesen, nun klagt er eben – der übliche Weg. Wobei es ihm nicht nur ums Geld geht, inzwischen hat er sich wieder einen Job besorgt. Es geht ihm ums Recht. Johne sagt, es sei alles ganz anders gewesen.
Der Richter klärt zuerst den Streitwert. Der ist nicht hoch: 378Euro, so viel hätte Johne von der Arge noch zu bekommen. „Es fehlt die Anhörung vor der Sanktion. Dem Beklagten muss Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Außerdem fehlt im Bescheid die Höhe der Sanktion“, stellt der Richter fest. Der Arge-Vertreter versucht zu retten, was zu retten ist: „Der Kläger hatte genügend Möglichkeit, sich im Widerspruchsverfahren zu äußern“, wirft er ein. Für den Richter ist das nicht relevant: „Die genannten Fehler reichen schon aus, um die Sanktion zu knicken.“ Schließlich kommt es zur gütlichen Einigung: Die Arge zahlt Johne die 378Euro nach.
Eine besorgte Mutter
Svens Mutter ist trotzdem nicht zufrieden. „Meinem Sohn ging es auch darum, wie mit ihm und anderen umgegangen wurde, dass sie mit Bummelanten und Alkoholikern in einen Topf geworfen wurden.“ Das kann von Egidy nur zur Kenntnis nehmen, es ist nicht Sache des Sozialgerichtes. Das sieht auch Sylke Johne ein. „Ich muss gleich meinen Sohn anrufen“, sagt sie und geht, nun doch recht froh.
Für Hans von Egidy war’s das für heute. „Es hat schon Verhandlungstage gegeben, die mehr schlauchten“, sagt er und geht wieder in sein Büro. Da warten die nächsten Akten für die nächsten Prozesse.