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Hier üben künftige Polizisten den Ernstfall

Kommissarsanwärter der Rothenburger Polizeihochschule trainieren derzeit möglichst reale Szenarien. Dabei läuft noch nicht immer alles nach Plan.

Von Frank-Uwe Michel
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Aus der Traum vom Ladenklau. Unter den aufmerksamen Augen von Marktleiterin Dana Herrmann führen Kommissarsanwärter der Rothenburger Polizeihochschule die vermeintliche Diebin ab. Sie trainieren bis in die nächste Woche hinein reale Szenarien.
Aus der Traum vom Ladenklau. Unter den aufmerksamen Augen von Marktleiterin Dana Herrmann führen Kommissarsanwärter der Rothenburger Polizeihochschule die vermeintliche Diebin ab. Sie trainieren bis in die nächste Woche hinein reale Szenarien. © André Schulze

Es ist Dienstagmorgen in Rothenburg, der Zeiger der Uhr steht auf kurz vor neun. Auf dem Netto-Parkplatz an der Horkaer Straße herrscht Hochbetrieb. Nicht nur Kunden sind hier, auch die Polizei. 

Ein paar Minuten zuvor hatte Marktleiterin Dana Herrmann einen Hilferuf abgesetzt: Ihr Markt sei beraubt worden, brüllte die junge Frau ins Telefon. „Zwei Verrückte“ hätten versucht, Waren mitgehen zu lassen. Eine der beiden Diebinnen habe man festhalten können, die andere sei geflohen. Mit einem Messer habe sie den Beschäftigten gedroht. „Ist Ihren Mitarbeitern etwa passiert?“ fragt die Polizeistimme zurück. Nein, beschwichtigt Dana Herrmann. Blut sei nicht geflossen. Und auch Verletzte gebe es nicht. Nur die kleine Blonde, die sich permanent wehre, „die haben meine Leute im Lager festgebunden.“

Die Netto-Chefin schmunzelt, als sie das Gespräch beendet. Sie und die anderen Verkäuferinnen sind Teil des Szenarios „Räuberischer Diebstahl im Supermarkt“. Es ist der erste von 14 Einsätzen, bei denen rund 140 Kommissarsanwärter der Rothenburger Polizeihochschule bis zum 10. April ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen sollen. „Wir finden das gut und machen gerne mit, auch wenn die Realität ein bisschen anders aussieht“, sagt Dana Herrmann. In ihrem Markt wird öfter geklaut, ernsthafte Zwischenfälle gab es aber bisher nicht.

Mit dabei ist auch Suzanne Kockat. Sie stammt aus Spremberg und ist Schauspielerin. Im normalen Leben steht sie in Theatern in Sachsen und Brandenburg auf der Bühne. Jetzt muss sie sich – mit Kabelbindern an einem Gitter festgezurrt – von den Netto-Mitarbeiterinnen beschimpfen lassen: Diebin, beschissene Kleinkriminelle. Endlich habe man mal eine gefasst. Ehe die Polizei eintrifft, sprudelt es aus der falschen Ganovin noch heraus: „Bei Fahrzeugkontrollen bin ich früher immer rot geworden. Jetzt bekomme ich hautnah mit, was die Beamten leisten müssen. Respekt – das ist eine ganz neue Erfahrung für mich.“

Die machen auch die Kommissarsanwärter des 24. Jahrgangs, die mit diesen intensiven Tagen im dritten Studienjahr ihren bisherigen Ausbildungshöhepunkt erleben. Polizeidirektor Jürgen Siegert, an der Hochschule Dozent für polizeiliches Management und Einsatzlehre, hat sich die Übungen ausgedacht, sieben Wochen lang mit Institutionen, Schauspielern und Komparsen verhandelt und sich bei allen Szenarien an aktuell möglichen Bedrohungslagen orientiert. 

Zehn Einsatzstellen gibt es dieses Jahr in Rothenburg, etwa genauso viele Schauspieler, dazu ein paar Akteure aus dem Martinshof. Natürlich sind auch Feuerwehren und Rettungskräfte mit dabei. „Wenn sie zu einem ‚richtigen‘ Einsatz gerufen werden, stehen wir leider auf dem Schlauch“, sagt der Chef des Trainings, das unter dem Titel „Komplexe Lagen“ steht. Zum Glück komme das aber höchst selten vor.

Im Netto-Lager wird die gefasste Diebin inzwischen von der Schutzpolizei befragt: Ausweisdokumente, Waffen, gefährliche Gegenstände? Suzanne Kockat schüttelt energisch den Kopf, wehrt sich, versucht sich loszumachen. Statt Plastebinder bekommt sie Handschellen angelegt. Die Beamten reden beruhigend auf sie ein. Dann folgt die unvermeidliche Leibesvisitation. Laut Personenabfrage über Funk ist sie bisher noch nicht negativ aufgefallen. 

Trotzdem kommt nun der Kriminaldienst zum Zuge, um die Hintergründe der Tat aufzudecken. Dass die Komplizin der Diebin längst geflüchtet ist, rückt bei den Kommissarsanwärtern erst jetzt wieder ins Blickfeld. Glücklicherweise noch nicht zu spät. Mit einer Tatortbereichsfahndung wird sie gefunden. Suzanne Kockat indes bekommt bald ihre Freiheit zurück. Nachdem die Anzeige aufgenommen ist, wird sie entlassen.

Matthias Wende (vorn) und Detlef Hasse vom DRK Weißwasser bereiten die Unfallopfer auf ihren Einsatz vor.
Matthias Wende (vorn) und Detlef Hasse vom DRK Weißwasser bereiten die Unfallopfer auf ihren Einsatz vor. © André Schulze
An der Bushaltestelle Oberschule ist ein Auto in eine Gruppe Wartender gerast. Hier herrscht Terrorverdacht.
An der Bushaltestelle Oberschule ist ein Auto in eine Gruppe Wartender gerast. Hier herrscht Terrorverdacht. © André Schulze
In der Einsatzzentrale laufen die Fäden aller Szenarien der Komplexübung zusammen.
In der Einsatzzentrale laufen die Fäden aller Szenarien der Komplexübung zusammen. © André Schulze

Kurz nach eins am Mittag reiben sich Autofahrer verwundert die Augen, als sie an der Bushaltestelle Oberschule einen leicht quer stehenden VW Passat entdecken. Um ihn herum fünf mehr oder weniger verletzte, teils mit Blut überströmte Personen. Ein paar Minuten zuvor war das Auto in die Gruppe der Wartenden gerast. 

Die Frau, die hinter dem Lenkrad saß, war beim Aussteigen über die „Ungläubigen“ hergezogen und dann stadteinwärts davon gerannt. Polizeioberrat Thomas Wurche, der das Geschehen an diesem Übungstag vor Ort begleitet, erklärt den Tathergang: „Es geht hier um eine junge Deutsche, die sich selbst radikalisiert hat und dem Salafismus verfallen ist.“ Für die Kommissarsanwärter kommt es nun darauf an, das zu erkennen und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.

Nur kurze Zeit später trifft der erste Rettungswagen mit einer DRK-Besatzung aus Weißwasser ein. Weitere Rettungssanitäter kommen mit dem ASB aus Niesky. Die Erstversorgung haben zum Teil schon die Polizeistudenten übernommen. Für die medizinischen Einsatzkräfte, zu denen auch ein Notarzt gestoßen ist, geht es nun darum, sich intensiver mit den Verletzungen zu befassen.

Detlef Hasse, der die Laiendarsteller aus dem Martinshof kunstvoll mit imitierten Verletzungen versehen hat, weiß, was behandelt werden muss: „Frakturen, Platzwunden, Rissverletzungen, pulsierende Blutungen und Schockzustände – die ganze Palette, die bei solch einem Zwischenfall auftreten kann“, sagt der DRK-Ausbilder, der bei Übungen von Bundespolizei, Wasserwacht und Feuerwehr schon oft seine Fähigkeiten bei der realistischen Unfalldarstellung bewiesen hat.

Parallel dazu läuft natürlich auch die Ermittlung an. Ein Verletzter kann die geflüchtete Frau beschreiben: lange blonde Haare, helle Jeans, grauer Schal, karierter langärmeliger Pullover. Über das Fahrzeugkennzeichen versucht die Einsatzzentrale, Rückschlüsse auf den Halter und dessen Wohnung zu ziehen. Thomas Wurche erklärt eine zusätzliche Schwierigkeit: „Der Vater der Flüchtenden ist Jäger. Damit hat die Frau Zugriff auf Schusswaffen. Das ergibt eine erhöhte Gefährdungslage.“ Bis zur Neiße flieht die Salafistin. Dann gibt sie, von den Polizisten dazu gedrängt, endlich auf.

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