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Hilfe, Tante Hilde glaubt an Verschwörungstheorien

Wie kann man reagieren, wenn ein nahestehender Mensch sich von der Realität entfernt? Ein persönlicher Versuch.

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© Foto: Imago

Von Luise Wolf

Vielleicht ging es Ihnen ähnlich: Eine mir nahestehende Person, nennen wir sie Tante Hilde, erzählte mir eine Geschichte. Via Kettennachricht über Telegram. Zuerst war ich verwirrt – was soll das? Dann sprachlos – glaubt sie das wirklich? Dann geschockt – das ist ja ernst gemeint! Plötzlich musste ich erkennen: Hilde lebt nicht mehr in derselben Realität wie ich, unsere Filterblasen haben keine Schnittmengen mehr. Ich dachte immer, Hilde sei doch eigentlich ganz vernünftig, aber dann ist sie plötzlich fanatisch davon überzeugt, Staaten würden geheime Untergrundkriege führen und Milliardäre würden neue Weltordnungen planen. Wie viele andere musste ich dann feststellen, Hildes „Symptome“, die durch Internet-Viren wie Falschnachrichten verursacht wurden, sind gar nicht leicht zu bekämpfen. Gegenrede prallt bei überzeugten Verschwörungsgläubigern oft an einer Flut von scheinbaren Indizien und Argumenten und deren kreativem Zusammenklauben ab.

Der Weg wird kein leichter sein

Viele Expertinnen und Experten teilen dieser Tage ihre Ergebnisse und Beobachtungen in den Medien, wie mit Verschwörungsgläubigern im persönlichen Umfeld umgegangen werden kann. Ihre Antworten reichen von kritischer Auseinandersetzung über Humor bis hin zu Abgrenzung. Natürlich steht auch Tante Hilde nicht für eine homogene Masse. Zwischen der Aussage „Da stimmt doch was nicht“ und „Die Juden sind schuld“ liegt ein himmelweiter Unterschied. Beängstigend ist allerdings, dass diese pathetischen Geschichten von Gut und Böse, diese großen Erzählungen vom Ende oder Anfang der Geschichte eine Sogwirkung entfalten können, weil sie Antworten, Unterhaltung und – über die Gemeinschaft, die sich als „wissend“ glaubt – das Gefühl der Zugehörigkeit bieten. Wie in der Religion haben auch Verschwörungsmythen mehr oder weniger überzeugte Anhänger. Ob und wie Sie also mit Ihrer Tante Hilde „in Reichweite“ bleiben, welchen Ansichten und Absichten Sie gewillt sind sich zu stellen, ist Ihre Sache. In jedem Fall wird dieser Weg kein leichter. Denn jeder Kontakt ist schwierig, wenn zwei in unterschiedlichen Welten leben. Er ist umso schwerer, desto näher der Mensch einem persönlich steht.

Es hilft nicht, das Gegenüber abzustempeln

Eine Möglichkeit: dagegen anreden. Schweigen wird als Zustimmung gewertet. Und gerade wem selbst das eine oder andere soziale Problem oder politische Thema am Herzen liegt, dem schmerzt die Brust, wenn Diktatoren auf einmal als Heilsbringer oder Minderheiten als geheimes Waffenarsenal dargestellt werden – vor allem, wenn es geliebte Mitmenschen sind, die solche Ansichten äußern. Meine Versuche, gegen Tante Hilde zu argumentieren, schlugen leider fehl, immer wieder. Ich musste einsehen, dass sie immer neue Theorien und dubiose Quellen fand und sich so sehr im Recht fühlte, dass jede Gegenrede als Angriff auf ihre Urteilsfähigkeit gedeutet wurde. Auch Studien zeigen, dass überzeugte Verschwörungsgläubiger dann noch stärker an solche Theorien glauben, wenn sie mit schlüssigen Gegenbeweisen konfrontiert werden.

Der Experte für Verschwörungstheorien, Prof. Michael Butter von der Universität Tübingen, mit dem ich damals über das Thema sprach, meinte: „Das kommt daher, dass diese Theorien eine wichtige Funktion für die Identität der Leute erfüllen. Rüttelt man an ihrem Gedankengebäude, rüttelt man auch an ihrer Identität, und das nimmt niemand von uns gerne hin.“ War ich also zu spät? Michael Butter sagte auch: „Oft hilft es sicherlich, einfach zuzuhören und nachzufragen, das Gegenüber nicht abzustempeln, um sich dann über Details auszutauschen und seriöses Wissen ‚einzustreuen‘.“

Also zuhören und nachfragen. Aber ein zivilisiertes Gespräch zwischen Aliens, die unterschiedliche Sprachen sprechen, ist gar nicht so einfach. Ich selbst belegte einen Grundlagenkurs in Mediation. Über zwei Monate lang beschäftigte ich mich damit, wie Gewaltfreie Kommunikation und Deeskalation funktionieren: Zuhören, Ich-Botschaften senden und spiegeln, spiegeln und noch mal spiegeln. Der Effekt war verblüffend. Tante Hilde und ich konnten uns endlich wieder ohne Fetzen und Vorwürfe unterhalten. Hilde fühlte sich wahrgenommen und wertgeschätzt und kam ins Erzählen. Interessant dabei war für mich, dass diese Gespräche oft raus aus dem „Märchenwald“ und rein ins eigene Leben führten, in große Momente und verpasste Chancen, Ängste und Verluste, oft in das Gefühl, benachteiligt oder unfair behandelt worden zu sein. In der Mediationstheorie heißt es, hinter jedem Konflikt stecke der Wunsch, eine Lösung zu finden. Wozu sich sonst aufregen? Und hinter jedem Glauben steckt eine große Emotion.

Am Ende hilft Humor

Was wurde also aus meinem Versuch, neutral zu bleiben? Ich scheiterte. Zumindest auf Dauer konnte ich meine Ansichten und Kritik an mir falsch und gefährlich vorkommenden Theorien nicht an mich halten. Ein Grundprinzip der Mediation ist die Neutralität des Mediators. Davon war ich weit entfernt.

Das Ende der Geschichte: Abfindung, wo es möglich ist, Abgrenzung, wo es nötig ist. Auf diesem Wege stellte sich aber noch etwas anderes ein: Humor. Nicht die hämische Art, die andere auslacht. Vielmehr war dieser Humor ein Rettungsanker, ein Akt der Verzweiflung und Ausdruck für den unbedingten Wunsch, wieder zusammen über die Welt lachen zu können. Dass Humor genau dafür da ist, zeigt auch ein Eintrag in der Brockhaus-Ausgabe von 2010: „Humor: seit dem 18. Jahrhundert verstanden als heiter-gelassene Gemütsverfassung inmitten aller Widerwärtigkeiten und Unzulänglichkeiten des Daseins.“