„Ich habe Freunde, die haben mich wüst beschimpft“

Anfang März traten Sie mit Schal um den Hals auf, waren offensichtlich verschnupft. Hatten Sie damals die Befürchtung, an Corona erkrankt zu sein?
Anfangs ja. Ich war mit meiner Familie in Tirol im Skiurlaub. Nach der Rückkehr ging es mir nicht gut, ich spürte Hitzewallungen und Fieber. Da habe ich gedacht, bevor ich auf Arbeit gehe und Leute anstecke, lasse ich mich lieber im Dresdner Uniklinikum auf Covid 19 testen. Das habe ich gemacht und auch selber bezahlt.
Was ist rausgekommen, sind Sie negativ?
Ja.
Wie oft haben Sie sich inzwischen testen lassen?
Nur das eine Mal.
Sie sind viel unterwegs, könnten sich oder andere anstecken. Warum haben Sie es bei diesem einen Test belassen?
Ich habe mich damals testen lassen, weil ich das Gefühl hatte, es sei notwendig. Das ist jetzt nicht der Fall, ich habe keinerlei Symptome.
Noch vor Wochen galt, dass sich nur Menschen mit Symptomen testen lassen sollten, obwohl gleichzeitig erklärt wurde, dass sich das Virus auch ohne erkennbares Kranksein verbreiten kann, und die Kassen zahlten nicht. Jetzt mussten sich sogar Dynamo-Spieler ohne Symptome testen lassen. Was gilt denn nun?
Anfänglich waren die Testkapazitäten begrenzt. Jetzt können wir mehr Menschen testen. Das ist auch möglich, und die Finanzierung erfolgt durch die Krankenkasse.
Gibt es genügend Testkapazitäten?
Ja. Wir kommen von einigen Hundert, und heute sind es über 10.000 in Sachsen.
Wenn wir Sie fragen würden, ob Sie an Aids erkrankt seien, antworten Sie möglicherweise, dass das niemanden etwas angeht …
Ich würde sagen, ich habe kein Aids, aber es geht Sie auch nichts an.
Im Fall von Corona ist es anders, da wird die Privatsphäre nicht mehr respektiert. Halten Sie das für richtig?
Bei Corona geht es alle etwas an, denn wir können uns mit diesem Virus auch in der Öffentlichkeit leicht infizieren. Bei Aids kann das nur bei intimen Kontakten passieren. Insofern sehe ich einen entscheidenden Unterschied. Im Übrigen denke ich, dass es berechtigt ist, wenn ich bei meinen Söhnen im Kindergarten frage, ob die anderen Mädchen und Jungen gegen Masern geimpft sind. Das hat etwas mit Sicherheit und Verantwortung zu tun.
Anfangs waren Sie zurückhaltend in der Forderung, die Gesellschaft herunterzufahren, dann forsch in der Umsetzung und jetzt sehr schnell bei der Lockerung. Warum diese Wandlung?
Anfangs gab es so viele Unsicherheiten, und die Faktenlage war sehr undifferenziert. Keiner wusste genau, wie sich die Krankheit überträgt.
Das wussten Sie anfangs nicht?
Wir wussten nicht, überträgt sich das Virus über die Hände, die Luft oder den direkten Kontakt. Und deshalb war es richtig, erst mal vorsichtig zu sein. Inzwischen wissen wir das alles. Deshalb ist klar, dass in jenen Regionen, in denen die Infektionszahlen gering sind, die Akzeptanz der Maßnahmen gegen das Virus ebenfalls gering ist. Ich habe Freunde, die mich wüst beschimpft hatten für die Absage der Leipziger Buchmesse Anfang März. Einer von ihnen hatte dann einen sehr schweren Krankheitsverlauf. Solche Ereignisse prägen einen und verändern die Sichtweise.

Kann der Staat überhaupt eine Schutzfunktion für alle Menschen leisten?
Der Staat muss Aufgaben übernehmen, die der Einzelne nicht leisten kann. Dazu gehören zum Beispiel die Verteidigung gegen Angriffe von außen, aber auch der Gesundheits- und Infektionsschutz. Bei so einer Pandemie, bei der das Leben von Millionen Menschen bedroht ist, muss er handeln. Das haben wir getan. Wenn das Risiko abnimmt, müssen staatliche Maßnahmen zurückgenommen werden, und es ist mehr Eigenverantwortung gefragt.
Und deshalb auch die schnelle Lockerung?
Im März bestand ein großes Risiko, dass die Pandemie außer Kontrolle gerät. Wir alle wussten zu wenig über die Übertragungswege, Schutzmaterial war knapp, die Infektionszahlen stiegen exponentiell. Durch das beherzte Handeln von vielen Verantwortlichen und die Disziplin und Solidarität der Sächsinnen und Sachsen ist es uns gelungen, einen Flächenbrand auszutreten. Seit dem 20. April gehen wir Schritt für Schritt in Richtung Normalität. Auch wenn es noch keine Medikamente und keinen Impfstoff gibt, mit dem gewonnenen Wissen können wir ein gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben mit dem Coronavirus organisieren. Staatliche Maßnahmen müssen immer verhältnismäßig sein. Wir können und müssen jetzt auf mehr Eigenverantwortung setzen. So halten wir es auch mit den nötigen Hygienekonzepten: Die Branchen machen die Vorschläge. Dort sitzen die Experten.
Während der Staat zu Beginn der Pandemie radikal seine Regeln durchgesetzt hat, zieht er sich nun aus der Verantwortung und lässt die Leute mit Ihren Schäden allein – wieso?
Wir wissen heute: 1,5 Meter und Mund-Nasen-Schutz reichen in aller Regel aus, um sich nicht anzustecken. Von einem generellen Verbot kommen wir jetzt zu einer grundsätzlichen Erlaubnis, wenn diese Schutzmaßnahmen eingehalten werden. Mir ist klar, dass damit weniger Geschäft möglich ist. Gaststätten, Hotellerie und Touristik brauchen unser aller Unterstützung und unser Verständnis. Ich werbe sehr für Akzeptanz für die Fortführung der Kontaktbeschränkung. Familienfeiern mit Mindestabstand? Das ist doch nicht realistisch. Daher wollen wir das Übertragungsrisiko im privaten Umfeld anders verringern. In den nächsten Wochen können sich nur zwei Hausstände treffen. Das ist mehr als heute, aber reicht noch nicht für eine Hochzeitsfeier mit 50 Personen.
Warum kamen die einzelnen Regeln so spät?
Mit unserer neuen Verordnung ist das jetzt geklärt. Wir haben für die Gastronomie mit der Dehoga Lösungen gefunden, ich persönlich saß mit dem Verband der Schausteller und Vertretern der Freizeitparks wie Belantis oder der Kulturinsel Einsiedel zusammen, um diese mit individuellen Hygienekonzepten wieder öffnen zu können. Aber keine Frage, das hat oft zu lange gedauert.
Sind die Lockerungen nicht auch eine Folge des Drucks, den Demonstranten auf die Politik ausüben, weil sie ihre Grundrechte unzulässig eingeschränkt sehen, es war ja sogar das Verlassen des eigenen Hauses untersagt, schlimmer als in der DDR?
Ich respektiere, dass Menschen demonstrieren, und warne davor, alle Proteste in einen Topf zu werfen. Es gibt Leute, die haben Fragen, die ich gern beantworten möchte. Es gibt zugleich Menschen, die lehnen alles ab und wollen das auch deutlich sagen. Da würde ich gern verstehen, was sie ablehnen. Und dann gibt es innerhalb der Proteste Unterwanderungen von Leuten, die alles nutzen, um Stimmung zu machen und auch falsche Informationen streuen.

Ein Vorwurf gegen die Regierung lautet, sie versetze die Bevölkerung bewusst in Angst und Schrecken, um sie besser leiten zu können. Was sagen Sie dazu?
Die Maßnahmen, die wir in Deutschland ergriffen haben, passen in einen Korridor weltweiter Maßnahmen. Somit greift der Vorwurf nicht. Außerdem gibt es in diesem Land viele Möglichkeiten, sich juristisch dagegen zur Wehr zu setzen, und vielerlei Möglichkeiten, seine Meinung zu artikulieren. Deshalb halte ich es schlicht für nicht begründet, was da gesagt wird.
Wie oft haben Sie in den vergangenen Wochen gezweifelt, ob all die Einschränkungen richtig waren?
Ich bin jemand, den man überzeugen kann. Und in den Diskussionen am Kabinettstisch habe ich mich mehrfach von der Gesundheitsministerin Petra Köpping, von Virologen oder von den Kollegen Ministerpräsidenten überzeugen lassen. Wir haben auch überzeugt. Es war immer ein Prozess gemeinsamer Entscheidungen.
Woran haben Sie Ihre Entscheidungen ausgerichtet?
Die Entscheidungen fielen anhand von Argumenten, Fakten und Empfehlungen des RKI. Bei der Maskenpflicht zum Beispiel.
Die Sie anfangs nicht wollten.
Die ich nicht wollte, die aber tatsächlich nur eine begrenzte Belastung darstellt. Mich hat letztlich überzeugt, dass die Masken einen zusätzlichen Schutz bewirken und jeden daran erinnert, dass wir in einer besonderen Situation leben und uns vorsichtig verhalten sollen.
Wer genau berät Sie?
Wir haben in der Staatskanzlei mit den Medizinern Prof. Josten von der Uniklinik Leipzig und Prof. Albrecht vom Uniklinikum Dresden beraten, mit den Ministern, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesundheitsämter, insbesondere dem Dresdner.
Zu Beginn der Pandemie erklärten Sie, dass Zeit nötig sei, um das Gesundheitssystem aufzurüsten, um den erwarteten Schwung an Patienten bewältigen zu können. Ist denn das Gesundheitssystem inzwischen in der Lage, die Folgen der Pandemie zu bewältigen?
Wir brauchten vor allem Zeit, um die Krankheit zu verstehen. Wir benötigten klinische Studien, um zum Beispiel zu wissen, wie sich das Virus überträgt, wie es sich verhält, ob Kinder die Infektion übertragen. Ich gehörte auch zu denen, die Kindergärten und Schulen zunächst nicht schließen wollten. Aber dann hat der Virologe Christian Drosten klug vorgetragen, dass hier deutschlandweit Millionen Kontakte bestehen und es gut wäre, diese zu unterbrechen. Wir sind dem gefolgt, haben parallel Studien in Auftrag gegeben, um eine gute Basis zu haben, das jetzt anders entscheiden zu können. Zwischenzeitlich haben wir ausreichend Schutzmaterial angeschafft.
Ein zweites Nadelöhr sind die Gesundheitsämter. Dort wurde Personal aufgestockt. Werden diese Ämter mit diesem Mehr an Personal weiterarbeiten können?
Das wird so bleiben. Allerdings muss man dazu wissen, dass die Gesundheitsämter in der Verantwortung der Landkreise liegen und sich auch hier einer völlig neuen Herausforderung stellen mussten. Jetzt sind diese Ämter sehr schlagkräftig.

Hätten Sie zu Beginn der Pandemie gedacht, dass Deutschland relativ schlecht aufgestellt war in Bezug auf Schutzkleidung und Schutzmasken?
Lagerhaltung im Lkw auf der Autobahn, im Flugzeug oder Schiff; das hat Jahrzehnte bestens funktioniert und ergab für uns einen riesigen Wohlstandsgewinn. Offenbar wollten wir auch gar nicht so genau wissen, wo kommt das alles her, zu welchen Kosten wird es produziert und unter welchen Arbeitsbedingungen. Jetzt plötzlich, wo es knapp wurde, interessieren wir uns wieder dafür und sagen Stopp. Doch wollen wir diesen Wohlstandsgewinn wirklich aufgeben? Durch die Corona-Krise müssen wir jetzt anders denken und handeln.
Und, wollen Sie den Wohlstandsgewinn aufgeben?
Klar ist, wir bauen für die notwendige Schutzkleidung Lagerhaltung auf, wir werden einen Vorrat bilden, sodass man einige Wochen überdauern kann. Gleichfalls haben wir gesehen, wie Marktwirtschaft funktioniert. Die Chinesen haben große Fabriken gebaut und den Markt überschwemmt. Kollegen hier am Kabinettstisch sagten schon vor Wochen, dass die nächste Blase keine Immobilien-, sondern eine Mundschutzblase werden würde. Und es ist so gekommen, und da scheint Lagerhaltung plötzlich wieder überflüssig.
Dennoch die Frage, ob Sie als Politiker jetzt vorsorgender handeln werden?
Die ersten Jahre ganz bestimmt. Wir müssen besser in der Lage sein, auf solche Ereignisse zu reagieren, um handlungsfähig zu sein.
Meinen Sie aus heutiger Sicht, es war ein Fehler, die gesamte Gesellschaft so weit runterzufahren, dass Kultur, Tourismus und ein Teil der Wirtschaft daran kaputtgehen können?
Vor dem Hintergrund dieser Bedrohung war es richtig. Dazu gebe ich zu bedenken, dass es keine Maßnahmen waren, die allein die Deutschen getroffen haben, sondern die ganze Welt hat so gehandelt, von China über Italien, Frankreich bis hin zu den USA und Russland. Gerade in dieser Zeit hat Deutschland mit dem Föderalismus einen Vorteil. Außerdem finde ich, wenn 16 Ministerpräsidenten, hinter denen 16 Parlamente stehen, und eine Bundesregierung gemeinsam entscheiden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Sache richtig ist, relativ hoch.
Der Nachteil daran ist nur, dass bei den Regelungen in den einzelnen Ländern keiner mehr so richtig durchsieht. Sehen Sie durch?
Der Föderalismus hat sich hier bewährt. Wir brauchen einen gemeinsamen Korridor, aber passgenaue Regelungen in den einzelnen Bundesländern. Einheitsregel für alle würde bedeuten, die ganze Bundesrepublik lahmzulegen. So wie es beispielsweise in Frankreich ist. Dann hätten wir diese Lockerungen jetzt nicht beschließen können. So wäre nämlich nicht Region Löbau-Zittau mit null Infektionen, sondern Baden-Württemberg, Saarland oder Bayern mit hohen Infektionsraten der Maßstab.
Da widersprechen Sie aber Ihrer Argumentation von Anfang März, da wurde immer wieder erklärt, dass das Virus durch die hohe Mobilität der Menschen weltweit transportiert werden könne. Wieso die Kehrtwende?
Sachsen hatte anfänglich eine Zunahme an Infektionen von bis zu 400 Fällen pro Tag, wir sind heute bei bis zu 20. Eins wird auf absehbare Zeit aber bleiben: die Kontaktbeschränkungen.
Wie lange wird die aufrechterhalten?
Das wird vom weiteren Infektionsgeschehen abhängig sein und von der Umsicht aller Bürgerinnen und Bürger. Zudem wird es hoffentlich einen Impfstoff und Medikamente geben, und dann wird das Thema aus der Welt verschwinden.
Hat der Staat ausreichend Finanzen, um alle retten zu können?
Bundesfinanzminister Olaf Scholz erklärt, Geld sei kein Problem. Es geht aber diesmal nicht um eine Finanz- und Wirtschaftskrise, die einen kurzen Ausschlag nach unten macht. In diesem Fall ist es anders, es geht um eine sehr lange Strecke. Scholz hat mit seiner Ansage einen falschen Eindruck erweckt, der nur schwer zu korrigieren ist.

Aber der Staat zwingt doch Unternehmen dazu, wenig arbeiten zu können. Warum stehen Sie jetzt dafür nicht ein?
Noch mal: Der Staat steht dafür ein, den Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Corona zu verbieten, geht leider nicht. Das Geld, das jetzt gefordert wird, sind Steuern, die vorher von Bürgerinnen und Bürgern erarbeitet wurden. Deshalb müssen wir maßhalten. Wir können nur die Dinge machen, die notwendig sind, um gut aus dieser Krise rauszukommen. Das versuchen wir in Sachsen. Wir haben die Möglichkeit geschaffen, sechs Milliarden Euro Schulden aufzunehmen. Ein Vorgang, den vor einem Jahr die Landtagsabgeordneten noch für undenkbar hielten. Aber so zu tun, als könnte man jede negative Auswirkung dieser Krise verhindern, ist unverantwortlich.
Kommt eine Insolvenzwelle auf Sachsen zu?
Es gibt eine große Verwerfung in der weltweiten Wirtschaft. Hunderte Staaten haben sich beim Internationalen Währungsfonds gemeldet, weil sie ihre Finanzierung nicht mehr sichern können.
Sie sehen eine Weltwirtschaftskrise auf uns zukommen?
Ja. Das braucht jetzt kluges Agieren von Europa, Ländern wie China, den USA, Russland und Indien, um gut durch diese Zeit zu kommen. Wenn nur Egoismen gewinnen, wird es extrem hart. Schließlich leben wir vom Export, aber wenn Lieferketten unterbrochen sind, bricht der Export ein. Es ist eine dramatische Situation.
Das betrifft dann auch die sächsische Automobilwirtschaft. Kann da eine Kaufprämie helfen, die Sie unterstützen?
Ich bin sehr für diese Kaufprämie, weil dann auch an alle Zulieferer ein Impuls gegeben wird. Es geht in dieser Krise auch darum, die Automobilindustrie, die der Wirtschaftsmotor dieses Landes ist, an der Hunderttausende Arbeitsplätze hängen, zu nutzen, damit sie die ganze Wirtschaft in Deutschland nach oben zieht.
Unterstützen Sie die Idee, besonders E-Autos zu fördern?
Ich würde sie breiter anlegen. Neue Autos sollten einen niedrigen CO2-Ausstoß haben, aber das muss dann auch reichen. Diesel sind übrigens tolle Autos, ich fahre begeistert Diesel.
Wünschen Sie sich eine fünfte Amtszeit für Angela Merkel?
Ich wünsche mir, dass wir gut durch die Zeit kommen.
Das Gespräch führten Annette Binninger, Heinrich Maria Löbbers und Peter Ufer.