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„Ich spreche schlesisch!“

Jürgen Hentsch war ein bedeutender Schauspieler. Der in Görlitz Geborene wurde 75 Jahre alt.

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Von Ralph Schermann

Er war ein Mime für den zweiten Blick und einer, dessen Ausdrucksstärke haften blieb, weil er mit seinen Rollen verschmolz. Ein unauffälliger Großer von Bühne, Film und Fernsehen ist kurz vor Weihnachten nach langer Krankheit gestorben. Vor 75 Jahren kam er in Görlitz zur Welt: Jürgen Hentsch.

2007 spielte er im TV-Drama „Die Flucht“ einen alten ostpreußischen Grafen, der seine Familie westwärts schickt und selbst vor der herannahenden Roten Armee ausharrt. Es war nicht der erste Film, in dem Jürgen Hentsch sich der Heimat erinnerte. Er war neun Jahre alt, als er selbst auf der Flucht war, auf einem Treck irgendwo im Tschechischen zurück nach Görlitz. Er und seine Mutter, das hat sich ihm eingebrannt, lagen dabei oft im Straßenrand und in Ackerfurchen – Tieffliegerangriffe noch am 8. Mai. „14 Tage hat der Marsch zu Fuß gedauert, und wem wir das alles zu verdanken hatten, begriff ich damals noch nicht“, erzählte der Görlitzer später, wenn er seine politische Haltung begründen sollte, die ihn ein Leben lang prägte. Gespielt dagegen hat er alles – den SPD-Mann Herbert Wehner ebenso wie den Kohl-Vertrauten Eduard Ackermann, den Staatssicherheits-Offizier und den Gutachter des Massenmörders Fritz Haarmann. Kollegen witzelten: Wann ist ein Mann ein Mann? Wenn Hentsch ihn spielt. Tatsächlich gehört die Rolle des Heinrich Mann (2001) zu den größten Erfolgen. Hier spielte er selbst Armin Mueller-Stahls mühelos an die Wand: Ein Stirnrunzeln, ein leichtes Beben in der Stimme, ein Räuspern – der Grimme-Preis in Gold und der Bayerische Fernsehpreis obendrein waren dafür mehr als berechtigt.

Die Wege für die Kunst ordneten sich in Görlitz auf zufällige Weise. Jürgen Hentsch half als 17-Jähriger seiner Großmutter. Die schälte Kartoffeln und hüllte die Schalen in eine Zeitung: „Bring das mal zur Mülltonne, Jürgen“. Und da reckte sich dem jungen Mann eine Anzeige entgegen, die er glatt strich: Die Berliner Schauspielschule rief. 1954 bewarb sich Jürgen Hentsch, Gymnasiast vom Klosterplatz. Mit Erfolg. Vielleicht trug spontan auch die Stimme zur Aufnahme bei? Sonor klang sie, leicht angeraut, klar artikuliert. Später das Ideal für so genannte Hörbücher. Hentsch formte sein Stimmmaterial auf den Theaterbühnen von Gera und Chemnitz und schließlich Berlin. Dort entdeckte ihn der Film. Er debütierte an der Seite von Jutta Hoffmann und Rolf Hoppe in „Karla“ – und erkannte, dass Arbeit auch vergebliche Mühe sein kann. Der Film wurde verboten.

Jürgen Hentsch spielte in „Solange Leben in mir ist“, dann kam 1967/68 der Durchbruch mit Konrad Wolfs Klassiker „Ich war neunzehn“. Besuche in Görlitz gehörten zu den Dreharbeiten, schließlich gab es Außenaufnahmen in der Lausitzer Heide- und Teichlandschaft. Auch seine weiteren Defa-Streifen haben einen guten Ruf: „Zeit zu leben“ etwa, „Zeit der Störche“ oder „Mama, ich lebe!“

Mitte der 80er Jahre verließ er die DDR. Er setzte seine Arbeit an Wiener Burgtheater, Münchner Kammerspielen und Berliner Schaubühne nahtlos fort, kam aber erst nach der politischen Wende wieder zum Film. Dann verging kein Jahr ohne mehrere TV- und Kinowerke. An der Seite von Harald Juhnke gestaltete er die Neufassung des „Hauptmanns von Köpenick“, neben Jan Josef Liefers gab er den Mediziner im „Tatort“, war sich auch für „Alarm für Cobra 11“ nicht zu schade. Privat aber schottete er sich ab. Er war mit Ehefrau Wassilka verheiratet, punkt. Nie drängte Jürgen Hentsch sich in die Öffentlichkeit der Talkshows. Mit „Der Mann aus der Pfalz“ beendete der Charakterdarsteller 2009 seine Filmarbeit.

Seine Heimat pflegte der Mime bis zuletzt. Besetzungsbüros ließ er nicht nur wissen, englisch zu sprechen und die Singstimme Bariton zu beherrschen, sondern er betonte in der Rubrik Dialekte als Besonderheit: „Ich spreche schlesisch!“