Am 25. November ist internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Es gibt zu dem Thema immer wieder spektakuläre Fälle – doch ist es auch ein Massenphänomen?
Ja. Die Zahlen, die uns bekannt sind, steigen jedenfalls kontinuierlich und beängstigend schnell. Von Einzelfällen kann man schon lange nicht mehr sprechen. Häusliche Gewalt gibt es überall, in allen Gesellschaftsschichten.
Wo sehen Sie die Ursachen dafür, dass in den letzten Jahren die Zahlen steigen?
Es gibt zwar unzählig viele Forschungen zum Thema Gewalt, leider aber noch keine, warum sie in den letzten Jahren signifikant steigt. Derzeit wird sachsenweit ein Frühwarnsystem aufgebaut, das von einem Forschungsauftrag begleitet wird. Das ist wichtig, denn gegenwärtig können wir über die Ursachen nur spekulieren: Geben die Medien zu viele Handlungsanleitungen und rufen so Nachahmer auf den Plan? Oder ist das Gegenteil der Fall – weil das Thema mehr in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, trauen sich auch mehr Betroffene, Gewalttaten anzuzeigen? Frühere Studien belegen, dass Frauen im Durchschnitt sieben Jahre Gewalt ertragen, ehe sie aufbegehren. Vielleicht reagieren sie jetzt schneller? Wir wissen es nicht. Aber erst wenn wir dieses Wissen haben, kann präventiv gehandelt werden.
Wie sollten Opfer einer Gewalttat handeln?
Sie können natürlich sofort die Polizei rufen, die die Möglichkeit hat, den prügelnden Partner aus der Wohnung zu verweisen. Da meist Frauen betroffen sind, können sie auch in ein Frauenschutzhaus gehen. Sowohl Polizei als auch die Schutzhäuser empfehlen dann meist einen Arztbesuch, der die Verletzungen dokumentiert.
Es gibt aber auch viele Frauen, die davor zurückschrecken, gleich die Polizei einzuschalten. Sie sollen wissen, dass wir zu 100 Prozent an unsere ärztliche Schweigepflicht gebunden sind – zumindest, wenn das Opfer volljährig ist. Sie können sich mit ihren Problemen an ihren Hausarzt oder auch – nach einer Terminabsprache – direkt an unser Institut wenden. Hier werden die Verletzungen untersucht, dokumentiert und beweissicher fotografiert. Diese Unterlagen werden dann weggeschlossen, an die kommt keiner ran, solange es das Opfer nicht selbst will.
Was passiert, wenn sich die Frau später doch zu einer Anzeige entschließt?
Dann muss sie den Arzt von seiner Schweigepflicht entbinden, erst dann geben wir die Unterlagen heraus. Das Opfer bleibt immer Herr über die Unterlagen.
Sie sprechen immer von Opfern. Sind das in erster Linie Frauen und Kinder oder gibt es auch betroffene Männer?
In der Mehrzahl sind es Frauen und Kinder, es gibt aber auch immer wieder Männer, die von ihren Frauen verprügelt werden. Sie haben es übrigens noch schwerer als Frauen, darüber zu reden, sie ernten oft Gelächter…
Bei der ärztlichen Schweigepflicht machten Sie die Einschränkung, dass diese bei Erwachsenen gilt. Wie ist es bei Kindern?
Da sind Ärzte nicht zwingend an ihre Schweigepflicht gebunden, wenn es gilt, Gefahr von dem Kind abzuwenden. Ich persönlich würde eine Anzeigepflicht bevorzugen, denn die derzeit geltende Rechtslage stellt den Arzt oft vor Gewissenskonflikte.
Steigen die Zahlen bei Kindesmissbrauch und -misshandlungen auch?
Leider ja. Und es nimmt vor allem die Gewalt zu, ich spreche da nicht von dem Klaps auf den Po. Die Kinder, die zu uns kommen, sind schwerst verletzt und stark behandlungsbedürftig. Wenn man die Bilder sieht, versteht man die Welt nicht mehr. Die meisten misshandelten Kinder sind übrigens unter einem Jahr alt.
Wohin sollten sich Eltern von misshandelten Kindern wenden?
Betroffenen in der Region Pirna empfehle ich den Besuch der Kinderklinik. Aber auch jeder Kinderarzt oder unser Institut sind Ansprechpartner.
Sind Ärzte mit dem Thema Gewalt vertraut und wissen, wie sie handeln müssen?
Ja, sie sind sehr interessiert und offen für das Thema. Unsere Fortbildungsveranstaltungen werden immer sehr gut angenommen. Außerdem gibt es seit vier Jahren einen Leitfaden für Ärzte bei Kindesmisshandlungen. In diesem Jahr haben wir auch erstmals einen für Gewalt an Erwachsenen erstellt, den ich in Pirna mit vorstellen werde.
Sie halten am 19. November anlässlich des Tags gegen Gewalt in Pirna einen Vortrag. Machen Sie so etwas öfter?
Ja, Öffentlichkeitsarbeit und Prävention sind uns ausgesprochen wichtig. Wir sprechen mit Ärzten aller Fachrichtungen bis hin zu Zahnärzten, Mitarbeitern von Jugendämtern und Hilfseinrichtungen, mit Pädagogen, Polizeibeamten, und wir halten Vorträge für die Öffentlichkeit so wie am Montag in Pirna. Hier werde ich auf die verschiedenen Arten von Gewalt eingehen und die Rechtslage erläutern, ich werde aber auch Beispiele bringen und Bilder zeigen.
Das Gespräch führte Jana Klameth.