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„Ich wäre hier kaputtgegangen“

Der Zittauer Arzt Jan Behncke sagt, warum er in die Schweiz gezogen ist und nicht mehr zurückkommen will.

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Von Gesine Schröter

Es fing vielversprechend an. Ein junger Schüler aus Zittau will Arzt werden, macht 1991 Abitur, seinen Zivildienst in Löbau und ein Pflegepraktikum in Ebersbach. Zwar geht er zum Studieren nach Gießen, lässt Sachsen aber nicht aus dem Blick und arbeitet als junger Arzt zunächst dreieinhalb Jahre in Dresden. Dann kommt der Bruch – langsam, aber sicher.

Seit elf Jahren lebt und arbeitet Jan Behncke (42) nun in der Schweiz, ist Anästhesist im Salem-Spital Bern und nebenberuflich Präsident der Stiftung Event Ambulanz. Der SZ erzählt er, warum er wie so viele sächsische Ärzte bereits 2003 Deutschland verlassen hat und kaum daran glaubt, jemals wieder zurückzukommen.

Herr Behncke, wie heimatverbunden sind Sie?

Ja, heimatverbunden ist man schon. Die Oberlausitz, Dresden – ganz Ostsachsen ist wunderschön. Die Landschaft ist toll und nicht so dicht bebaut wie das Schweizer Mittelland. Als Student war ich sogar sehr mit der Oberlausitz verwurzelt. Bin einmal im Monat von Gießen heimgefahren, zu meiner Mutter und zu meinen Freunden. Später in Dresden zu wohnen, war fantastisch: Das kulturelle und touristische Angebot, das städtische Flair...

Das alles hatten Sie, als sie 1999 als Arzt im Praktikum in Dresden angefangen haben. Warum sind Sie weggegangen?

Die Arbeitsbelastung im Krankenhaus war einfach enorm, der Verdienst extrem niedrig. Das hat irgendwann an der Substanz gezehrt. Viele haben sich zunehmend gefragt, wie es woanders wäre.

Wie sah Ihr Tagesablauf damals aus?

Wir haben morgens um sieben Uhr angefangen und waren offiziell 15.30 Uhr fertig. Klingt erst einmal verlockend. Dazu kamen aber viele unbezahlte Überstunden, wir mussten oftmals sofort nach Dienstschluss andere Kollegen ablösen, bis Mitternacht oder sogar bis zwei, drei Uhr morgens, mit kleinen Pausen. Manchmal blieben uns zwei bis drei Stunden Schlaf, es lohnte sich nicht, nach Hause zu fahren. Das war anstrengend. Am nächsten Tag ging es weiter mit Einlesen in Krankenakten und ungefähr zehn Patientengesprächen à 30 Minuten. Der Mangel war damals, zwischen 1999 und 2003, schon da. Weggegangene Kollegen wurden nicht ersetzt, es gab viele offene Stellen, wir waren knapp besetzt. Das hält man nicht lange aus.

Und wie sah es mit dem Verdienst aus?

Ich weiß noch genau, wie viel mein erster Lohn betragen hat: 1 682 D-Mark, also umgerechnet 900 Euro netto als Arzt im Praktikum. Danach waren es 1 800 Euro netto. Klingt im ersten Moment auch nicht so übel. Aber das war der Lohn für 200 Stunden im Monat, 50 Stunden die Woche.

Hatten Sie ein Schlüsselerlebnis für den Wechsel in die Schweiz?

Ich glaube, nicht so richtig. Meine damalige Partnerin hatte während des Studiums Erfahrungen in der Schweiz gesammelt und eine gute Meinung von dort. Vielleicht war es der Moment im Januar 2003, nach einem dieser blöden Nachtdienste. Da wurde mir klar: Entweder du machst diesen Trott hier weiter mit und gehst dabei kaputt oder du änderst was. Dann habe ich per Telefonverzeichnis im Spital in Biel angerufen und zufällig war gleich der Chefarzt dran. Dann habe ich meine Unterlagen gemailt.

Wie war Ihr Start in der Schweiz?

Ein völlig anderes Bild. Die ersten Wochen waren wie Sanatorium für mich. Die Belastung war geringer, die Wertschätzung und Hilfsbereitschaft höher. Ich hatte mir die Entscheidung nicht leichtgemacht, habe lange überlegt. Ich wollte erst mal ein Jahr hin und mal gucken, habe die Dresdner Wohnung behalten. Aber sehr schnell habe ich gemerkt: Hier ist das Arbeiten angenehmer, der Freizeitwert hoch, der Verdienst das Dreifache. Da sind auch die enormen Lebenshaltungskosten hier kein Problem. Zwar sind die Arbeitszeiten mit 50 Stunden pro Woche auch lang, aber es wird darauf geachtet, dass sie ja nicht überschritten werden. Außerdem ist die Belastung während dieser Arbeitszeit geringer. Das hat mich wieder aufgebaut.

Was ist Ihrer Meinung nach also hierzulande schiefgelaufen?

Ich erinnere mich noch an einen Satz von Ex-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: „Ich kann nicht jeden Arzt zum Millionär machen.“ Ich habe das Gefühl, in Deutschland wurde politisch vieles fehlgesteuert: Die Politik entscheidet, wie es in der Medizin läuft, wie bezahlt und vergütet wird, greift wirtschaftlich ein. Unsere Standesorganisationen, der Hartmannbund und der Marburger Bund, haben wichtige Impulse gegeben und gesagt: Halt! Stopp! Die Arbeitszeiten! Aber solange es ganz gut lief, hat die Politik die Probleme scheinbar nicht sehen wollen. In Sachsen blieben die Löhne niedriger. Erst wenn die Ampeln auf Rot stehen...

Hat sich die Lage in Ihren Augen seitdem gebessert?

Nein. Ich habe die Situation in Sachsen weiter beobachtet, war halbjährlich in Dresden, habe Kontakt zu den Kollegen gehalten. Die sagten, es sei noch schlimmer geworden. Es gibt Tausende deutscher Ärzte in der Schweiz. Auch in anderen Ländern wie Holland, Schweden, Norwegen. Nachgerückt sind Kollegen aus Staaten mit noch schlechteren Bedingungen. Ich denke, das ist ein generelles Problem, besonders in den ostdeutschen Ländern. Dort sind die Leute sehr flexibel. Die gut Ausgebildeten gehen dahin, wo es ihnen besser geht. Das ist ja bei vielen Berufen so.

Gibt es eine Lösung für diese Probleme?

Das ist eine sehr große Frage. Dafür müssen viele Rahmenbedingungen geändert werden, wirtschaftlich und politisch. Speziell in der Medizin darf die Politik nicht so viel reinspielen in die wirtschaftliche Abrechnung: Eine Diagnose, ein fixer Betrag. Es gibt keine Zeit mehr im Krankenhaus, um sich um den Patienten zu kümmern.

Fehlt Ihnen Zittau manchmal?

Als ich 1998 zum Praktikum in Zittau war, habe ich gemerkt, dass es mir nicht mehr so zusagte wie früher. Ich hatte das frische, moderne, weltoffene, internationale Stadtleben in Dresden und Gießen kennengelernt. In Zittau erlebte ich damals alte Hierarchien und altes Denken. Wenn ich die Stadt heute besuche, spüre ich ein resigniertes Gefühl, durch Abwanderung und Überalterung. Wunderschöne Häuser und leere Straßen.

Die Wahrscheinlichkeit, nach Deutschland – oder gar nach Zittau – zurückzukommen, ist für Sie ...

...aktuell ganz, ganz gering. Ich habe jetzt ein Haus in der Schweiz, eine Schweizer Partnerin, eine kleine Tochter. Die Entscheidung war gut. Ich wäre sonst kaputtgegangen.