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„Ich wollte nicht heulen“

Auf eine Zeitreise hat sich die 76-jährige Bettina Gärtner aus Witten begeben, auf den einstigen Hof ihrer Eltern in Sulikow (Schönberg).

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Von Peter Chemnitz

Der große Hofhund sieht gefährlich aus. Er bellt und zerrt wie verrückt an der Kette, die lang, aber zum Glück nicht zu lang ist. Ansonsten liegt der Hof wie ausgestorben da. Die Erntegeräte stehen aufgereiht. Das Wohnhaus duckt sich hinter einem großen Garten voller bunt blühender Blumen, Gartenzwergen und anderem Nippes. Ein paar Kätzchen tollen durch das hohe Gras. Würde da nicht hinter der Werkstatt ein großer blauer Massey-Fergason-Traktor vor sich hin blubbern – und er tut es sehr leise – man würde die Bauernfamilie irgendwo auf den Feldern vermuten. Aber Tadeusz Baranek steht ruhig in einer Nische, hat alles im Blick und wartet erst einmal ab. Er hat das kleine deutsche Auto auf den Hof fahren sehen, die Görlitzer Nummer registriert und beim Anblick der älteren Dame und ihrer erwachsenen Tochter huscht ein Lächeln über sein Gesicht. Der Fotograf dagegen irritiert ihn, der Journalist auch.

Die Arbeit bleibt liegen

Vielleicht fahren sie ja wieder, mag Baranek gedacht haben. Denn er hat anderes zu tun, als ein Schwätzchen zu halten. Auf den Feldern wartet die Arbeit. Und Baranek wird sich gleich für seine Gedanken geschämt haben. Denn er kennt ja Bettina Gärtner seit Jahren. Die Tochter der Leisners, denen einst der Hof gehörte.

Als die 76-Jährige – laut „Pan Baranek, Pan Baranek“ rufend – den Hof zu inspizieren beginnt, weiß dieser endgültig, dass er in seinem Versteck keine Chance hat. Die Arbeit wird erst einmal liegen bleiben. Schließlich ist man in Polen und da zählt die Gastfreundschaft etwas, auch wenn die Gäste unangemeldet und zur Unzeit kommen.

Vielleicht lockt den Bauern aber auch das große Fotoalbum, in dem Frau Gärtner immer wieder blättert, um dann aufgeregt nach rechts und links zu zeigen. Die in Witten im Ruhrgebiet lebende Frau ist in der letzten halben Stunde immer jünger geworden. Auf der Reise von der Pension in der Görlitzer Schulstraße bis nach Sulikow, dem früheren Schönberg, hat sie vom Zirkus erzählt, der einst auf der Wiese neben der Ruhmeshalle, dem heutigen Dom Kultury, regelmäßig seine Zelte aufschlug. „Hier habe ich irgendwo mein Armband verloren.“ Und sie erzählt von dem Mann, der nicht nur Marionettenpuppen zu schnitzen wusste, sondern auch Puppentheater für die Kinder spielte. In Schönberg hat sie die Grundschule besucht. Später ist sie mit Kleinbahn und Straßenbahn nach Görlitz ins damalige Schlageter-Gymnasium am Wilhelmsplatz gefahren.

Ruinen und Neubauten

Je mehr sich das Auto Sulikow nähert, desto mehr Erinnerungen drängen nach oben. An den Pfarrer, der auch während der Nazi-Zeit die christliche Jungschar organisierte. An ehemalige Nachbarn, an die Badeanstalt, den Tierarzt, die Mosterei. An die Streiche, die sie mit ihrem Zwillingsbruder Hans-Gerhard den Dorfbewohnern gespielt hat: „Wie Max und Moritz haben wir das Brett über den Bach angesägt und der Eisholer ist ins Wasser gefallen.“ Das waren die Leisnerschen, hieß es dann.

Als schließlich ein Wegweiser auftaucht, sagt Bettina Gärtner fröhlich zu ihrer Tochter: „Noch sieben Kilometer, dann sind wir zu Hause.“ Sie zeigt auf ein unscheinbares Häuschen. Hier wohnte der Polizist. Sie freut sich auf den „sehr schönen Hof“ der Hansbachs und ist, als dieser auftaucht, erschrocken. „Ach du liebes bisschen.“

Frau Gärtner sieht Ruinen an sich vorbeirauschen, auch ein paar Neubauten. Mitunter hat sie Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Das Haus des Spaniers steht noch. Wie ein Spanier nach Schönberg kommt, weiß sie nicht mehr, aber ein Foto hat sie von ihm.

Dann zeigt sie auf die Stelle, wo das Gasthaus „Germania“ stand. Hier mussten sich die Schönberger im Juni 1945 versammeln, bevor sie der Heimat verwiesen wurden. „Hier habe ich auf der Wiese gesessen.“ Jetzt schießen doch Tränen in die Augen, dabei hatte sich Bettina Gärtner fest vorgenommen, dass das nicht passiert. „Ich wollte nicht heulen.“

Der Rotbach führt zum elterlichen Hof. Vorbei an dem Grundstück „der alten Frau Specht, die einst Bonbons an die Kinder verschenkte“. Das Obergut in Schönberg war einst das Zuhause der Leisners. Der Großvater hatte das Gut mit 160 Hektar Land Mitte der 20er Jahre gekauft. Hier verlebte Bettina Gärtner eine heile Kinderzeit. Diese endete im Februar 1945, als Soldaten begannen, Panzersperren zu bauen. Im Hof nisteten sich „Frundsberger“ ein, wie Frau Gärtner sagt. Also Angehörige jener 10. SS-Panzerdivision, in der zu dieser Zeit auch der spätere Literaturnobelpreisträger Günter Grass diente. Die Leisners wurden evakuiert, flüchteten zu Verwandten nach Kiesdorf auf dem Eigen. Mussten später weiter und erlebten das Kriegsende am 8. Mai schließlich im Sudetenland.

Schwerer Abschied

„Am 12. Mai waren wir wieder zu Hause“, sagt Bettina Gärtner. Empfangen wurden sie von polnischen Offizieren. Die seien freundlich gewesen, auch weil die beiden polnischen Mädchen, die einst auf dem Obergut gearbeitet hatten, für die heimkehrende Bauernfamilie bürgten. Der endgültige Abschied von der Heimat kam am 21. Juni 1945. Binnen weniger Minuten hatten alle Deutschen – abgesehen vom Bäcker und einer Handvoll anderer Handwerker – Schönberg zu verlassen. Nur Handgepäck durfte mitgenommen werden. Kühe, Pferde und die Jagdhunde blieben zurück. Besonders schwer sei es gewesen, die Bauern weinen zu sehen, sagt Frau Gärtner.

Über Radmeritz führte der Weg nach Hagenwerder. Die Leisners kamen erneut in Kiesdorf unter. Bis auch die Verwandten im Zuge der Bodenreform enteignet und am 24. Dezember 1945 des Kreises verwiesen worden. „Das war schlimmer, als das was uns geschehen ist“, sagt Bettina Gärtner: „Eine Vertreibung durch die eigenen Landsleute.“

Bauer Baranek nickt. Er spricht kein deutsch, aber das Wort „Kommunist“ hat er verstanden. Er schnappt sich das Fotoalbum, deutet auf die Bilder und dann auf die verfallenen Stallungen. „Kommunisten“, sagt er. Und jetzt ist es an Frau Gärtner zu nicken. Die versteht zwar ihrerseits kein polnisch, aber Baraneks Gestus. Der kocht inzwischen Kaffee und telefoniert seine Schwester heran.

Danuta Baranek-Kostyszak spricht nicht nur fließend deutsch, sondern sie ist als Lehrerin auch an der deutschen Vorgeschichte Sulikows interessiert. Sie erzählt den Schülern, wie die Deutschen hier einst gelebt hätten. Auf dem Friedhof zeichnet sie die Schrift von den alten Grabsteinen ab. Ob Frau Gärtner nicht einmal zu ihren Schülern sprechen wolle? Die findet die Idee gut, fühlt sich aber für eine Unterrichtsstunde aber doch zu alt. Dafür lobt sie die Fotoausstellung vom vergangenen Jahr, in der das alte Schönberg für einige Wochen wieder auferstand.

Extra ein Schwein geschlachtet

Frau Gärtner erfährt zu ihrem Erstaunen, dass sich in genau einer Woche ihr Zwillingsbruder auf Besuch bei Baraneks angesagt hat. Er habe schon ein Schwein geschlachtet, grinst der Bauer. Die Leisners seien schließlich ein Teil des Dorfes: „Wir sind doch eine Familie.“ Dann rechnet Baranek vor: Im nächsten Jahr habe er den Hof 30 Jahre und die Leisners hätten hier 20 Jahre gesessen. „2008 feiern wir gemeinsam ein halbes Jahrhundert im großen Saal des Gutes.“ Den will Baranek demnächst sanieren und in ihm ein Restaurant betreiben.

„Ich habe große Hochachtung vor Herrn Baranek“, sagt Frau Gärtner. Wie er das Land bewirtschafte und Stück für Stück zusammenkaufe. Dann zieht es sie hinaus. Sie will an den Teich, wo der wilde Hopfen wächst und eine Handvoll pflücken. Ob sie das darf, fragt sie. Baranek nickt: „Sie sind hier zu Hause.“ Sie drückt ihn und wischt ein paar Tränen weg. Dann ruft sie wie zu Kinderzeiten in die hallende Hofeinfahrt mit den Dachziegeln von 1937: „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ Und das Echo antwortet wie früher auf deutsch.