„In der DDR waren Kinder eher trocken“

Nach der Wende schien es mir, als hätten wir das Rad in der Kindererziehung neu erfunden“, sagt die Erzieherin Carina Frank aus Dresden. Die heute 55-Jährige kennt die Betreuung nach Plan der 80er-Jahre und auch die plötzliche Freiheit, nach der Kinder alles selbst entscheiden dürfen. Die SZ hat mit ihr über Vor- und Nachteile der zwei Systeme gesprochen.
Kritiker sagen, die Kindererziehung in der DDR war von Drill geprägt. Töpfchenbänke und streng geplante Beschäftigungen zeugen doch davon?
Mit Drill hatte das meiner Meinung nach nichts zu tun. Denn die Töpfchenzeit richtete sich auch nach natürlichen Gewohnheiten: So wurden die Kinder vor dem Essen, nach dem Schlafen oder nach dem Spielen im Garten aufs Töpfchen oder die Toilette gesetzt. Doch es gab auch Kinder, die in ihrer Entwicklung noch nicht so weit waren. Sie wussten noch nicht, was sie auf dem Topf sollen. Für diese Kinder war das nicht zielführend. Da wären Windeln vielleicht besser gewesen. Doch Kinder, die zur DDR-Zeit von der Krippe in den Kindergarten wechselten, mussten sauber sein, da gab es keine Windeln mehr. Ging dann mal etwas daneben, haben die Kinder das als Niederlage erlebt, was es aber definitiv nicht ist.
Waren die Kinder zu DDR-Zeiten eher sauber?
Ja, das lag aber weniger an den Töpfchenbänken als an den Stoffwindeln. Wenn Stoffwindeln nass waren, war das sehr unangenehm. Die Kinder wollten sie so schnell wie möglich loswerden. Das hat angespornt. Bei den heutigen Wegwerfwindeln spüren sie möglicherweise gar nicht, ob sie eingemacht haben. Diese Motivation zum Sauberwerden fehlt schon mal. Unsere und die Aufgabe der Eltern ist es, auf die Feinzeichen des Kindes zu reagieren und zu erkennen, wann es seinem natürlichen Bedürfnis nachgehen muss. Ist dann der „Erfolg“ im Töpfchen sichtbar und die Kinder begreifen den Zusammenhang, werden manche sogar innerhalb einer Woche sauber.

Wie haben Sie die Umwälzung in der Erziehung erlebt?
Nach einer Zeit, in der alles mehr oder weniger streng geregelt war, kam zur Wende plötzlich die große Freiheit. Die Kinder sollten alles selbst entscheiden dürfen – ob sie essen, ob sie schlafen, aufs Töpfchen müssen oder womit sie sich beschäftigen. Das war eine Wende um 180 Grad. Kinder sind aber keine kleinen Erwachsenen – mit bestimmten Entscheidungen sind sie überfordert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sie einen regelmäßigen Tagesrhythmus, eine liebevolle Begleitung und viele Freiheiten brauchen. Dieses Konzept leben wir heute in unserer Kita. Wir haben für alles Zeitkorridore, keine strikten Termine mehr.
Wie muss man sich diese Zeitkorridore vorstellen?
Frühstück gibt es zum Beispiel von 7.30 Uhr bis 9 Uhr. Kinder, die früh zeitig kommen, haben meist eher Hunger und müssen dann nicht bis zu einer festen Frühstückszeit warten. Sie bedienen sich einfach selbst am Buffet: mit Cerealien, belegten Broten und Obst. Ähnlich ist es zum Mittag. Hier gibt es ein Kinderrestaurant, wo sich die Kinder ihre Mahlzeit selbst zusammenstellen können. Pädagogen sind bei den Mahlzeiten natürlich immer dabei. Wenn aber Kinder erst etwas fertig spielen wollen, können sie auch später zum Essen kommen. Niemand wird aus seinem Spiel gerissen. Beim Schlafen ist es ähnlich. Kinder, die morgens zeitig aufstehen mussten, sind mittags müde, andere nicht. Wir haben vereinbart, dass sich alle mindestens eine halbe Stunde hinlegen und ruhen. Wer dann nicht schläft, darf aufstehen und leise etwas spielen, ohne die anderen Kinder zu stören. So lernen sie auch gegenseitige Rücksichtnahme.
Die Ernährung ist aber dann bestimmt recht einseitig, wenn die Kinder selbst wählen dürfen?
Die Gefahr besteht natürlich, aber wir Erwachsenen essen ja auch nicht alles. Wir führen die Kinder liebevoll beispielsweise an Gemüse oder gesunde Nahrungsmittel heran, die weniger beliebt sind. Sie können dann sehen, dass die Freundin oder der Freund das auch essen und probieren es aus. Das ist eben der große Vorteil, wenn mehrere Kinder zusammen sind. Den Begriff Restaurant verstehen wir als Orientierung: Es gibt ein Gericht – bei Süßspeisen auch eine Alternative. Die Kinder nehmen sich nur die Menge der Komponenten, die sie möchten. Sie essen also nicht täglich Nudeln. Alternativen gibt es natürlich auch bei Allergien, aus religiösen Gründen oder bei Vegetariern.
Und diese Kostformen sind aus Ihrer Sicht besser als früher?
Sie haben Vorteile. Zum Beispiel haben so alle Kinder das gleiche Angebot zum Frühstück. Früher wurde das Frühstück und der Nachmittagsimbiss im Kindergarten meist von zu Hause mitgebracht. Da gab es oft lange Gesichter, weil der Nachbar etwas vermeintlich Schöneres mithatte. Beim Mittagessen wurden die Kinder früher angehalten, immer aufzuessen. In manchen Einrichtungen saßen die Kinder sogar noch lange nach der offiziellen Mittagszeit vor ihrem Teller. So etwas gibt es heute zum Glück nicht mehr. Die Kinder werden von den Pädagogen angehalten, zunächst wenig zu nehmen und zu kosten, damit nur wenig weggeworfen werden muss. Nachschlag gibt es genug. Die Selbstbedienung macht den meisten auch viel mehr Spaß, als wenn das Essen durch Erwachsene portioniert wird.
Und die Esskultur?
Ganz sauber sieht es auf den Tischen natürlich nicht aus. Die Kinder lernen das aber. Sie wählen zwischen Löffel und Gabel. Wir Erzieher sitzen auf Rollhockern und können helfend eingreifen. Doch wir fragen vorher immer: „Darf ich dir helfen?“ Dann müssen wir auch Ablehnung aushalten. Das war früher anders, da wurden Kinder schneller mal gefüttert, damit alle zugleich fertig sind.

Ergotherapeuten kritisieren heute oft, dass manche Kinder zur Einschulung keinen Stift halten können. Mehr Individualität in der Beschäftigung hat demnach auch Grenzen?
Wie in vielen anderen Dingen ist es pädagogisches Geschick, keine Einseitigkeit aufkommen zu lassen. Ein Kind, das zum Beispiel nur mit Autos spielt, kann ich motivieren, mal eins zu zeichnen, aus Papierschnipseln zu kleben oder auszuschneiden. Eine kleine Puppennärrin wird vielleicht an einem Puppenwagenwettrennen Freude haben. Unsere Kita arbeitet nach dem sächsischen Entwicklungsbaum. Darin stehen altersbezogene Fähigkeiten, die ein Kind im Vorschulalter erlernen sollte. Wir setzen Häkchen, wenn Kinder diesen Entwicklungsschritt erreicht haben. So haben wir den Überblick, dass sie sich vielseitig entwickeln und die Kriterien für die Einschulung erfüllen können.
Die Beschäftigungen zu DDR-Zeiten waren doch abwechslungsreich. Warum ist man dabei nicht geblieben?
Früher haben zum Beispiel alle Kinder zur gleichen Zeit das Gleiche gemalt. Doch wir wissen es von uns selbst, man hat nicht jeden Tag zu allem gleich viel Lust. Das zeigte sich dann auch im Ergebnis. Misserfolge spornen aber nicht an. Lernen soll Freude machen. Das ist heute das Konzept. Ich finde es besser als den strikten Plan von früher. Einen so strikten Plan gab es auch beim Wechsel der Kinder in die nächst höhere Gruppe oder überhaupt beim Eintritt in Kindergarten oder Krippe. Das ist heute viel besser auf die einzelnen Kinder abgestimmt.
Wie sah der Plan früher aus?
Wer in die Kinderkrippe kam, startete immer am 1. September – wie auch der Schulbeginn. Wir hatten dann zehn und mehr neue Kinder vor uns. Es gab auch keine Eingewöhnung. Die Kinder wurden uns übergeben, kamen also in völlig fremde Arme, und Mutter oder Vater mussten wieder gehen. Die Kinder weinten dann viel, hielten sich an ihren Eltern fest, was ja völlig verständlich war.
Auch als Erzieher konnten wir uns nicht allen Kindern gleichzeitig widmen. Beim Wechsel in die nächstgrößere Gruppe das Gleiche. Alle Kinder hatten plötzlich eine neue Erzieherin, das war großer Stress für beide Seiten. Heute gibt es den begleiteten Wechsel, wo die ehemalige Betreuerin noch eine Zeit lang mit in die neue Gruppe geht. Auch die Eingewöhnung in die Kita erstreckt sich über mehrere Tage oder Wochen. Damit gibt es längst nicht mehr so viele Tränen wie früher.
Gibt es auch etwas, was in der „alten“ Zeit besser war?
Meiner Meinung nach war es das Gesundheitssystem. Die Kinder waren im Grunde alle geimpft. Waren sie krank, blieben sie zu Hause. Erst wenn der Kinderarzt bescheinigt hatte, dass sie wieder gesund waren, durften sie wieder in die Kita. Das ist heute manchmal anders. Es gibt Eltern, die haben im Job großen Druck, möglichst nicht auszufallen. Sie geben ihren Kindern am Morgen zum Beispiel Fiebersaft und hoffen, dass das Kind den Tag durchhält. Dafür haben wir Verständnis. Aber es ist immer sinnvoll, dass die Eltern uns sagen, wie sich das Kind fühlt, damit wir uns darauf einstellen können.
Wichtig ist, die Ansteckungsgefahr in der Kita so gering wie möglich zu halten. Es gibt heute viele verschiedene Erziehungsstile. Die Autorität des Erwachsenen wird darin unterschiedlich wahrgenommen. Für uns ist das im Alltag mit Herausforderungen verbunden.
Das Gespräch führte Stephanie Wesely.
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