Inga und Leonie allein zu Haus

Nun hat es doch noch geklappt mit dem Urlaub, wenigstens für ein paar Tage, mitten in der eigentlich urlaubslosen Krisenzeit. Nachmittags haben Inga Seifert* und ihre Tochter das Zelt aufgebaut, sich darin eingerichtet, gegessen, noch ein wenig gekuschelt, den Vögeln in den Bäumen zugehört und dem Rauschen der Blätter, bis die fünfjährige Leonie eingeschlafen war. Bei ihr selbst, sagt die junge Mutter, habe das noch ein Weilchen gedauert. Der Wind habe aufgefrischt und irgendwo in der Nähe irgendjemand sehr lange mit sehr viel Knoblauch gekocht. Man kann sich seine Zeltnachbarn nun mal nicht aussuchen. Auch nicht die Balkonnachbarn.
Das Zelt von Inga und Leonie steht im Schlafzimmer ihrer Wohnung, mitten in Dresden. Es ist nicht mal ihr eigenes. Sie hat es ausgeliehen, über das Corona-Hilfswerk Dresden. Einer Internet-Plattform, wo Menschen sich gegenseitig Hilfe anbieten oder um Hilfe bitten. Zum Beispiel, um ein paar Tage in der eigenen Wohnung zu zelten. Um mitten in der Krise ein wenig Urlaub zu machen. Da die 32-Jährige kein Auto besitzt, seit Beginn der Pandemie nicht aus dem Haus kann und erst recht nicht die Straßenbahn benutzen will, ist sie immer wieder auf solche Hilfe angewiesen. Jetzt, in der Isolation, wo alle Kitas geschlossen haben, wo Kontaktverbot herrscht, wo sie allein ist mit ihrer Tochter, und die mit ihr. In der Wohnung, den lieben langen Tag, der manchmal bei aller Liebe auch verdammt lang sein kann.
Erst recht für Menschen wie Inga Seifert. Sie selbst ist zwar nicht besonders gefährdet und könnte ein Leben führen wie andere junge Mütter auch, soweit es die besonderen Umstände eben erlauben. Sie tut es nicht. Sie hat die Isolation gewählt. „Mit Paranoia hat das nichts zu tun“, sagt sie. „Ich mache das wegen Leonie.“ Die Fünfjährige gehört zur Hochrisikogruppe. Schon vor der Geburt, sagt Inga Seifert, habe man bei ihrer Tochter feststellen müssen, dass ihre Lunge nicht so gesund war wie bei anderen Kindern. Das lebenswichtige Organ war so krank, dass Leonie nach der Geburt eine Hälfte davon entfernt werden musste. Würde die verbliebene halbe Lunge nun vom Coronavirus befallen werden; das Mädchen hätte deutlich weniger Chancen, die Infektion zu überleben. Was bedeutet: Ein Leben allein zu zweit, auf 54 Quadratmetern, ohne Kontakte.
Vorsichtige Fluchten aus der Isolation
2,6 Millionen Alleinerziehende wie Inga Seifert gibt es in Deutschland, die meisten sind weiblich. In Sachsen zählte man zuletzt über 93.000, das war vor fünf Jahren. Viele von ihnen fühlten sich auch vor Corona schon extrem beansprucht oder sogar überfordert, unter Druck, im Dauerstress. Nicht nur jene Eltern, die berufstätig waren. Nun, wo Schulen, Kitas und selbst die Spielplätze geschlossen sind und auch Kindern das Spielen mit Freunden untersagt ist, leben viele Alleinerziehende vollends am Limit dessen, was sie schultern und tragen können. Unterstützung etwa durch Kommunen oder das Land, aber auch von ehrenamtlicher Seite wie dem Corona-Hilfswerk oder der Nachbarschaftshilfe Dresden nutzt ihnen für die Kinderbetreuung ebenfalls nichts. Auch die Jüngsten können schließlich Überträger des Virus sein oder zu dessen Opfer werden.
Deshalb hat Inga Seifert für sich und Leonie beschlossen: Wir bleiben ganz zu Hause. Zwar nicht 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Aber beinahe. Natürlich lassen sie auch niemanden in ihre Wohnung hinein, weder Freunde noch den Reporter. Sich selbst gönnen sie dennoch ein paar kleine, vorsichtige Fluchten aus der Isolation. „Ab und an gehen oder radeln wir für eine kleine Runde raus, dahin, wo es grün ist. Aber nur frühmorgens, wenn wenig los ist. Und manchmal muss ich Kleinigkeiten erledigen wie Glas zum Container bringen.“ Mehr erlaubt sie sich nicht. „Es gibt hier immer noch zu viele Menschen, die ziemlich rücksichtslos sind und keinen Mindestabstand einhalten. Immer wieder laufen hier am Haus Gruppen von Jugendlichen vorbei, die sind manchmal zu fünft oder zu sechst – aber meinst du, die würden untereinander Abstand halten geschweige denn zu uns? Das ist mir einfach zu riskant.“ Für die Einkäufe hat Inga Seifert zum Glück Helfer. Manchmal bringt die Nachbarin etwas für sie mit. Die größeren Besorgungen übernimmt jemand vom Corona-Hilfswerk.
Wann ist die Grenze des Erträglichen erreicht?
Die Dinge des täglichen Lebens sind geregelt. Und die Dinge des täglichen Zusammenlebens während der Ausgangsbeschränkungen? Für viele Eltern ist es gerade ein wenig so, als herrschte tiefster Winter mitten im Frühling, mit schlechtestem Wetter. Wer zwei oder mehr Kinder hat, muss oft Langeweile oder Streit abfedern. Wer aber wie Inga Seifert nur ein Kind erzieht, wünscht sich manchmal ein zweites herbei. Damit die Tochter oder der Sohn wenigstens ab und an jemanden zum Spielen hat und man selbst mal kurz abschalten kann. Seit Wochen heben Psychologen ihre Stimmen und Finger immer höher. Sie warnen vor den Folgen von Schul- und Kitaschließungen und Kontaktsperren. Gerade für Alleinlebende, Alleinerziehende oder eben besonders kinderreiche Familien, sollten diese das Zeitmaß des Erträglichen nicht überschreiten. Nur – wann ist die Grenze des Erträglichen erreicht? Die Natur des Virus und die Naturen der menschlichen Seele sprechen sich nicht ab. Ganz zu schweigen von den erlassenen Schutzmaßnahmen und den damit verbundenen Einschränkungen des öffentlichen Lebens.
Auch da haben Inga und Leonie Seifert Glück. Das „Glück“, dass wegen der Krankheit ihrer Tochter auch die Mutter krankgeschrieben ist. Und das Glück, im Alleinsein miteinander erfahren zu sein; Leonies Lunge machte das schon vorher gelegentlich nötig. Deshalb wirkt die Fünfjährige auch jetzt nicht wie eingesperrt. „Wir spielen viel zusammen“, sagt sie stolz. „Ich singe und tanze viel und ich spiele gerne Prinzessin, und manchmal bin ich auch eine Magd.“ Nicht zu vergessen ihre Hörspiele. „Am besten finde ich ,Bibi und Tina‘. Und ,Rabe Socke‘. Und natürlich Märchen“ Die Kita, die vermisst sie manchmal schon. „Aber dafür haben Mama und ich jetzt ganz viel Zeit zusammen alleine.“
Was nicht heißen soll, dass sie jetzt einfach in den Tag hinein und durch ihn durch leben. „Wir brauchen unbedingt unsere Struktur“, sagt Inga Seifert. „Ohne diese geht es nicht.“ Dafür sorgt ein Tagesplan: Um 7 wird aufgestanden. Dann gibt es erst mal eine Mutter-Kind-Yoga-Einheit. Um 8 Uhr folgt das Frühstück, dann eine kleine einsame Vormittagsrunde an der Luft mit einer Obstpause. Anschließend wird gespielt oder sich sonstwie beschäftigt. Ab 11 Uhr bereitet Inga Seifert das Essen zu, die Mahlzeiten hat sie zwei Wochen im Voraus in einem kindgerechtem Essensplan gemeinsam mit ihrer Tochter zusammengestellt. Um 12 wird gegessen, dann ab und an Mittagsschlaf gehalten. Nachmittags machen sie, worauf sie gerade Lust haben.
Warten auf den Impfstoff
Was vermisst man am meisten in der Isolation? „Meine Freunde und die Familie“, sagt Inga Seifert sehr schnell. „Vor allem meine Mutter, die leider sehr weit weg wohnt.“ Immerhin kommt ab und an jemand auf Kurzbesuch ans Fenster zur Straße. Aber auch kleine Bau- und Bastelprojekte halten sie bei Laune. Leonie fehlen vor allem: „Meine Freunde.“ Nicht alle Kinder aus der Kita wird sie wiedersehen; für einige beginnt nach dem Sommer die Schule. Deshalb malt Leonie jetzt ein „Freundschaftsbuch“, in dem sie all die anderen noch einmal um sich versammelt.
Wie lange sie diesen Zustand noch aushalten könnten? „Lange“, sagt Inga Seifert und nickt ein ganzes Spalier Ausrufungszeichen hinter das Wort. So viel ist sicher: Sie werden sehr lange aushalten müssen. Vielleicht mehr als ein ganzes Jahr. Denn egal, wann und wie sich das Leben für die meisten Menschen wieder in Richtung Normalität entwickeln kann: Für Inga Seifert und ihre Tochter ist es wohl erst dann soweit, wenn ein Impfstoff gefunden wurde oder das eindeutige Ende der Pandemie gekommen ist. Hauptsache, das Virus kann Leonies Leben nicht mehr bedrohen. Was sie an ihrem ersten freien Tag am liebsten machen würde, weiß sie jetzt schon: „Wir wollen in die Therme. Und dann wieder richtig zelten.“
*Name von der Redaktion geändert