Ist das noch Sport oder nur was für Verrückte?

Von Carsten Hoefer
In den Nachrichten tauchen Skibergsteiger meist als Lawinenopfer auf – tot oder verschüttet. Unter Uneingeweihten gilt es als lebensgefährliches Harakiri-Unternehmen. Am Wochenende wollen die besten Skibergsteiger in Berchtesgaden beim ersten Weltcup in Deutschland beweisen, dass es sich bei ihrem Sport keinesfalls um Nervenkitzel für Lebensmüde handelt.
„Das sind nicht die Verrückten, Narrischen, die den Berg hinaufrennen“, sagt Bundestrainer Thomas Bösl vor dem Wettbewerb von Freitag bis zum Sonntag. Die Disziplin hat Chancen, ihr Randdasein in der öffentlichen Wahrnehmung hinter sich zu lassen. Bei den Winterspielen 2026 in Italien könnte sie sogar olympisch werden. Bei Olympia 2022 in Peking entscheidet das Internationale Olympische Komitee, ob Skibergsteigen auch zum Programm der Winterspiele 2026 gehört.
Der Berchtesgadener Weltcup ist ungewöhnlich. Die Athleten treten beim „Jennerstier“, einem seit 15 Jahren ausgetragenen Wettkampf an, bei dem Breiten- und Spitzensportler, Frauen und Männer starten können. Eine deutsche Meisterschaft gab es schon, ein internationales Rennen nicht. „Endlich mal ein Weltcup zu Hause – das ist schon etwas anderes“, sagt Bösl.
Der Jenner ist ein 1.874 Meter hoher Berg mit kleinem Skigebiet in direkter Nachbarschaft des Königssees. „Stier“ heißt der Wettbewerb, weil die Teilnahme an Skitourenrennen große Kräfte erfordert. Damit das Publikum etwas von dem Wettkampf hat, wird ein Zuschauerbereich auf dem Gipfel eingerichtet, von dem aus der Wettkampf aus der Vogelperspektive zu sehen ist. Der Deutsche Alpenverein (DAV) überträgt per Livestream im Internet.
Rückbesinnung auf alte Zeiten
Skibergsteigen ist keine modische Neuerung. Bis in die 1950er-Jahre bedeutete Skifahren eh in aller Regel Bergsteigen, da Lifte und Gondeln noch nicht weit verbreitet waren. Bei den Skirennen der Frühzeit mussten die Sportler grundsätzlich erst den Berg mit Muskelkraft erklimmen. In den Alpenländern ist Skitourengehen ohne Zeitnahme traditioneller Breitensport, der sich seit einigen Jahren wieder zunehmender Beliebtheit erfreut.
Für den Aufstieg werden Felle auf die Skiunterseite geklebt, die das Abrutschen verhindern. Vor der Abfahrt werden sie abgenommen. Der Fellwechsel kann über Sieg oder Niederlage entscheiden und wird daher eigens trainiert – im Sommer.
Als Wettbewerb ausgetragen, ähnelt Skibergsteigen einem Skilanglaufrennen – mit sehr viel mehr Höhenmetern. Es zählen Aufstiegs- und Abfahrtszeit. Abgefahren wird nicht auf präparierten Pisten oder Loipen, sondern im freien Gelände. Es gibt einige Unterdisziplinen. Beim „Jenner-stier“ stehen drei davon auf dem Programm: Sprint, Vertical und Individual.
Individual hat die größte Ähnlichkeit mit einer traditionellen Skitour: eine Abfolge von mindestens drei Aufstiegen beziehungsweise Abfahrten in Kombination mit Tragepassagen. Beim Vertical gibt es keine Abfahrt. Es zählt bloß der Aufstieg.
Gemessen an den Zeiten von Freizeitsportlern ist die Weltspitze unfassbar schnell. Beim Individual müssen die Sportler beinahe 1.700 Höhenmeter hinauf und wieder hinunter. „Wir rechnen mit einer Siegerzeit von 1:30 bis 1:40 Stunden“, sagt der sportliche Leiter Hermann Gruber vom DAV. Zum Vergleich: Ein Breitensportler rechnet je nach Fitness üblicherweise mit einer Faustformel von einer Stunde Aufstiegszeit für 300 bis 400 Höhenmeter.
1.900 Höhenmeter in einem Rennen
Dominiert wird der Sport von den Italienern. Bester Deutscher ist Lokalmatador Toni Palzer. Er belegte in der vergangenen Saison den zweiten Platz im Gesamtweltcup. Beim „Jennerstier“ will der 26-Jährige mehr: „Er ist motiviert, in seiner Heimat aufs Podest hinaufzulaufen“, sagt Bösl.
Bei den dritten Olympischen Jugend-Winterspielen im Januar in Lausanne war das Skibergsteigen die einzige neue unter acht Sportarten und begeisterte. „Das ist ein tolles Format und wirklich spektakulär“, schwärmte damals der deutsche Chef de Mission Roland Frey. Bis zu 1.900 Höhenmeter überwanden die Athleten bei den Rennen. Bei der Staffel, in der das deutsche Quartett auf Rang fünf kam, bewältigten die Sportler je zwei Auf- und Abstiege. Frey erkannte „großes Potenzial für Olympia“.
Die Jugendspiele sind das Experimentierfeld der olympischen Bewegung für neue Disziplinen: Von den Sommer-Jugendspielen 2018 in Buenos Aires schaffte es beispielsweise Breakdance ins Programm für Paris 2024. Im Erfolg solch junger Sportarten sieht Frey eine Verpflichtung: „Wir müssen schnell schauen, wie wir einen Unterbau hinbekommen, um international konkurrenzfähig zu bleiben.“
Skibergsteigen passt gut ins stärker auf Nachhaltigkeit ausgelegte Konzept, das sich Olympia gerade nach den imageschädigenden Winterspielen 2014 in Sotschi und 2018 in Pyeongchang verordnet hat. Die Sportart liefert spektakuläre Fernsehbilder. Für sie müssen keine neuen Anlagen in die Berge gepflügt werden. „Wir brauchen weder Infrastruktur noch Kunstschnee. Es ist sehr ökologisch“, betonte Weltverbandspräsident Thomas Kähr. „Wir könnten für die Olympischen Spiele eine echte Bereicherung sein.“ (dpa)