Von Sven Siebert, Berlin
In Kiew dürfte man wenig begeistert sein – vorausgesetzt, man widmete sich der Lektüre der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“. Darin interviewt die Redaktion ihren eigenen Mitherausgeber, Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt. Und der 95-Jährige – in den vergangenen Jahren immer für eine mehr oder weniger altersweise Stellungnahme gegen den Mainstream gut – äußert dort großes Verständnis für das russische Vorgehen in der Ukraine. Auf die Frage, ob Wladimir Putins Vorgehen bei der Annexion der Krim legitim sei, antwortet Schmidt: „Ich finde es durchaus verständlich.“

Geschichte ist wichtiger
Es verwundert nicht, dass der Altkanzler zur Untermauerung seiner Haltung etwas in den Geschichtsbüchern blättert. Die Geschichte der Krim sei wichtiger als die Berufung auf das Völkerrecht, postuliert Schmidt. Er erinnert an die Krimkriege, Mitte des 19. Jahrhunderts, an den Frieden von San Stefano 1878 und an den Umstand, dass die Krim in der Folge bis 1990 auch im Westen unzweifelhaft als Teil Russlands angesehen worden sei. Auf den Einwand, Nikita Chruschtschow habe der Ukraine die Halbinsel 1954 geschenkt, antwortet Schmidt, man könne „zweifeln, welche Konsequenzen das Geschenk rechtlich tatsächlich hat. Da kann ein Jurist ein langes Gutachten drüber schreiben“.
Wenn es um das Existenzrecht des ukrainischen Staates geht, schlägt Schmidt vor, Historiker streiten zu lassen. Nach seiner Ansicht ist die Ukraine zwar seit dem Ende der UdSSR ein unabhängiger Staat, dessen territoriale Integrität man nicht ohne Weiteres verletzen dürfe. Andererseits sei die Ukraine eben „kein Nationalstaat“. Unter Historikern sei umstritten, ob es überhaupt eine ukrainische Nation gebe.
Und daher ist das so eine Sache mit dem Völkerrechtsbruch, der nun den Russen vorgeworfen wird. Schmidt sagt über die Annexion der Krim durch Russland, es sei „ein Völkerrechtsbruch gegenüber einem Staat, der vorübergehend durch die Revolution auf dem Maidan nicht existierte“. Das Völkerrecht sagt Schmidt mit dem Wissen und der Erfahrung des fast Hundertjährigen, „das Völkerrecht ist sehr wichtig, aber es ist viele Male gebrochen worden“.
Anders als sein Nach-Nachfolger Gerhard Schröder – wie er Sozialdemokrat – führt Schmidt hier nicht den Luftkrieg gegen Jugoslawien wegen des Mordens und der Massenvertreibung im Kosovo an. Schmidt erinnert an ein jüngeres Beispiel: Als sich die Nato (ohne deutsche Beteiligung) in den libyschen Bürgerkrieg eingemischt habe, habe sie das Mandat des UN-Sicherheitsrates „weit überzogen“.
Es verwundert nicht, dass Schmidt, der von 1974 bis 1982 Bundeskanzler war, auch die jetzige Reaktion des Westens auf Putins selbstbewusste Außenpolitik für überzogen hält. „Ich halte diese Sanktionen für dummes Zeug“, sagte er der „Zeit“. Die Reiseeinschränkungen für das Spitzenpersonal der russischen Führung hält er für besonders unpassend. Wie sollten russische Politiker denn nun an einer internationalen Konferenz teilnehmen, wenn es eine geben sollte? Außerdem: Wann und durch wen würden diese Sanktionen eigentlich wieder aufgehoben?
Schmidt meint, dass sich Putin zwar in der Nachfolge der Zaren Peter und Katharina, der Romanows und Lenin sehe, dass er aber nicht größenwahnsinnig sei. „Wenn sie sich an die Stelle von Putin denken, dann würden Sie wahrscheinlich ähnlich in Sachen Krim reagieren, wie er reagiert hat.“
Schmidt erinnert daran, dass Russland in den beiden Weltkriegen auf der Seite des Westens gestanden habe. „Und Deutschland stand auf der falschen Seite. Das vergessen die Deutschen heute.“ Die Russen hätten zudem ihren Hass auf Deutschland überwunden. Vielmehr gebe es Bewunderung für Deutschland und seine Wirtschaftskraft. Vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts plädiert Schmidt daher für eine außenpolitische Zurückhaltung gegenüber Russland.
Lob für die Bundeskanzlerin
In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass der greise Altkanzler offenbar nicht alle westlichen Akteure gleichermaßen für unfähig hält. Einerseits wirft er den „politischen Eliten des Westens“ vor, sich möglicherweise von der „friedlichen Gesinnung ihrer Völker“ zu entfernen. Aber dem „zögerlichen“ US-Präsidenten Barack Obama spricht er zumindest ein Risikobewusstsein zu. Ein ausdrückliches Lob verteilt Schmidt nur für „die Vorsicht der deutschen Bundeskanzlerin“, die eine zusätzliche Aufregung auf russischer Seite zu vermeiden trachte.
Von Angela Merkel, die es sich zwar einerseits zur Aufgabe gemacht hat, den Gesprächsfaden mit Putin nicht abreißen zu lassen, die aber andererseits die Sanktionen des Westens mitträgt, ist keine konkrete Reaktion auf Schmidts Interview überliefert. Auch SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich nicht geäußert. Von der Bundesregierung gibt es auf Nachfrage nur einen Satz: „Der Altbundeskanzler hat seine persönliche Meinung geäußert“, die man nicht zu kommentieren habe.