Ist Dresdens Selbstliebe eine Wurzel für Fremdenhass?

Dresden. Sommer 2018. Kurt Drawert bezieht die Stadtschreiber-Wohnung in Dresden-Pieschen. Ein befremdlicher Geruch hängt in den Räumen. Die Klimaanlage macht Geräusche. Und auch die Vorstellung, genau zu wissen, wer vorher in diesem Bett schlief, befördert das Wohlbefinden nicht unbedingt. Nur der Blick vom Balkon versöhnte mit mancher Zumutung. Drawert hat ein Foto von dieser Aussicht in sein Buch aufgenommen, das am Donnerstag herauskommt: „Dresden. Die zweite Zeit“. Es ist ein hoch politischer Band, stark in den Reflexionen über die Zerrissenheit der Stadt und beklemmend in jenen Kapiteln, die vom privaten Schmerz erzählen – hier lässt sich beides nicht voneinander trennen. Der Dichter, Essayist und Romancier aus Darmstadt, 2017 mit dem Lessingpreis des Freistaats Sachsen ausgezeichnet, gibt sich als autobiografisches Ich zu erkennen. Nein: Hier reißt sich einer die Hemdbrust auf und wühlt in den eigenen blutenden Wunden. Nichts ist vernarbt. Am Ende denkt er sogar an die letztmögliche Konsequenz. Oder aber: „Etwas in mir muss sich erinnern, um geheilt zu werden.“
Das ist einer der Gründe, warum sich Kurt Drawert um das Stipendium als Stadtschreiber in Dresden bewarb und ein halbes Jahr lang hier lebte: Er wollte zurück in die Heimat. In dieser Zeit schrieb er Kolumnen für die Sächsische Zeitung, drei hat er in sein Buch aufgenommen und dazu Reaktionen von Lesern. Ein anderer Grund ist die Nähe zur alten Mutter, die noch hier wohnt und das Ritual des gemeinsamen Sonntagnachmittagskaffees verteidigt. Drawert liefert eine fabelhafte seitenlange Suada über die Pflicht des Schuhausziehens an der Türschwelle – das hätte ein Thomas Bernhard nicht besser beschreiben können in seinem präzisen Ingrimm. Der wichtigste Grund jedoch liegt in der Stadt selbst. Drawert missfällt der Mythos, mit dem sich Dresden im Krieg und danach umgab, das Beharren auf dem Besonderen. „Wer hat das Recht auf einen Ausschließlichkeitsanspruch von Schmerz?“ Erst durch die Busse, die der Künstler Halbouni als Mahnmal hochkant auf den Neumarkt stellte, sieht er die kollektive Trauer der Stadt in einer „Welttrauer“ aufgehoben.
„Widerstand!“ unter Polizeischutz
Die gegenteiligen Meinungen sind ihm nicht entgangen. Auch nicht die Montagsaufläufe. Er nennt es schäbig, dass sie Symbole des politischen Aufruhrs vom Ende der DDR für gänzlich andere Zwecke benutzen. „Pegida und ihr siamesischer Zwilling, die AfD, sind Meister darin, Symbole zu stehlen.“ Er hört die Menge „Widerstand!“ skandieren und fragt, was das für ein Widerstand sei, der unter Polizeischutz im Kreis um den Altmarkt läuft. Mehr als ein pauschales Dagegensein? Im Unterschied zu manchen anderen Autoren, die nach einer Stippvisite fix fertig waren mit ihrer Meinung, setzt sich Kurt Drawert mit dem Protest auseinander, um ihn zu verstehen. Er beschreibt ein „Phänomen der Traumatisierung, der Kränkung und Angst“ und eine „dunkle Empörungsgemeinschaft“. Er sieht in „stumpfe Parteigesichter, die alten Zeiten nachtrauern“, sieht Abgehängte wie seinen Bruder Ludwig, sieht ein „gut genährtes Wohlstandsproletariat“, das die Wäsche reinhole, wenn Fremde kommen. Zugleich registriert er einen doppelten Paradigmenwechsel, den der Osten erlebt habe: den politischen nach ´89 samt „Versagenshistorie der Nachwendezeit“ und den der Digitalgesellschaft, die keinen Stein auf dem anderen lässt. Die Folge: viele soziale Paradoxien, die nirgends so augenscheinlich seien wie in Dresden.
Das Besondere in Drawerts Texten liegt in der Verknüpfung von politischer und seelischer Verfasstheit. Er forscht nach den Strömen des Unbewussten. So kommt er zu dem Schluss, dass die Selbstüberhöhung der Stadt, ihre „narzisstische Eigenliebe“, die „psychogene Wurzel des Hasses auf alles Fremde“ sei. Und weiter gräbt er sich hinein in seelische Untiefen: Manche, die bei Pegida demonstrieren, würden sich das verpasste Nein gegen die DDR nicht verzeihen und die fehlende Courage nun nachholen wollen. Wenn Drawert vom „verpassten Vatermord“ spricht und dass er in allem seine Mutter suche, würde man gern Sigmund Freud konsultieren. Der Autor lässt die Dinge dicht an sich ran. Sie gehen ihm im wahrsten Sinn des Wortes unter die Haut. Als Halbwüchsiger begann er aus Verzweiflung zu schreiben, und daran hat sich für den 64-Jährigen wenig geändert. Immer noch trägt er die als eingrenzend und zerstörerisch erlebte Allmacht von DDR und Familie mit sich herum. Das Leiden daran wird zum Leitmotiv. In diesem Buch wird doppelt abgerechnet: „Das System war der Krebs in unserer Familie.“
Ein Schnitt durchs Familiengewebe
In das Nachdenken über die Gegenwart ist das Erinnern eingewoben: Dresden, die erste Zeit. Kurt Drawert ist zehn, als er 1967 mit Eltern und Zwillingsbrüdern aus einer märkischen Kleinstadt in die Ernst-Thälmann-Straße 9 zieht, die heutige Wilsdruffer. Die Mutter ist in entscheidenden Momenten nie da. Der Befund heißt „vegetative Störung“. Unglücklichsein würde als Grund nicht gelten. Ihr Leben sieht der Sohn als freudlose protestantische Pflichterfüllung. Der Vater, staatstreuer Kriminalist, agiert autoritär und gewalttätig. Der Sohn hasst ihn stellvertretend für das System DDR. Jetzt kommt eine bestürzende Entdeckung hinzu: Es scheint einen Halbbruder namens Kurt zu geben, einen Verstoßenen und Verheimlichten, und eine Schwester, die tot zur Welt kam. Kein Wort dazu vom Vater.
Mit dem Abrechnungsfuror setzt sich ein Thema fort aus Drawerts Romandebüt „Spiegelland“ von 1991. Das war, schreibt er, „wie ein Schnitt mit der Rasierklinge durch das familiäre Gewebe“. Es ist, als hätte der Autor alle Kränkungen, Abweisungen und Verstoßungen, alle Lügen und Täuschungen des Landes und der Familie auf sich versammelt. Kein Wunder, dass seine Schultern schmerzen. Auslöser ist zwar ein Sturz bei Glatteis, doch Drawert sieht darin einen tieferen Sinn, ein Sinnbild: Er schultert den Weltschmerz. „Ich kann es nicht mehr (er-)tragen.“ Es passiert nicht oft, dass ein Literat seine Qualen so öffentlich und genau seziert. Für Kurt Drawert gehört eben das zum eigenen Selbstverständnis dazu. Verdrängen wäre leichter.
Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit. C. H. Beck Verlag, 294 Seiten, 22 Euro
Lesung und Gespräch am 13. Oktober, 19 Uhr, im Dresdner Stadtmuseum