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Jeder Klick ist ein Risiko

Immer online – das ist heute fast jeder. Dass das krank machen kann, hat ein Dresdner erlebt. Er ist abgestürzt. 

Von Melanie Schröder
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Paul war nahezu immer online - bis er krank wurde.
Paul war nahezu immer online - bis er krank wurde. © Sven Ellger

Wenn er über sein Erwachsenwerden spricht, werden seine Augen glasig. Pauls* Blick sucht nervös nach etwas, an das er sich klammern kann. Er ringt um Worte, die Verletzungen sind frisch. Erst vor drei Wochen ist er rückfällig geworden. Stundenlang hing Paul vor dem Computer und hat Videos auf YouTube „gesuchtet". So beschreibt er es. Sein Leben ist dann wie eingefroren. Während sich um ihn herum alles weiterdreht, geht sein Blick nur stur geradeaus. Immer auf den Bildschirm. Bei anderen gehört der zum Tablet oder Smartphone, bei dem jungen Dresdner zum PC. Heute sucht der 24-Jährige keine Ausflüchte mehr, er benennt sein Problem: „Ich bin pathologischer PC-Spieler und Internetnutzer. Man kann auch sagen, süchtig nach Onlinespielen und Internetmedien.“

Für den Studenten aus der Neustadt ist es eine unterschätzte Krankheit mit vielen Gesichtern. Manche arbeiten sich stundenlang durch Netzwerke wie Facebook, verfolgen und kommentieren Beiträge, ohne sich losreißen zu können. Andere versenken neben viel Zeit auch Hunderte Euro in Handyspielen, die so simpel wie fesselnd sind. Paul hat diese Menschen kennengelernt. In der Therapie. Was sie eint: Egal, ob Handy oder Computer – die Sucht nach Onlinemedien hat sie krank gemacht.

Erst vor einem Jahr konnte sich Paul das eingestehen. „Man realisiert das lange nicht und spielt es herunter. Schließlich ist heute jeder stundenlang online, ob beruflich oder zur Unterhaltung.“ Genau so ist für ihn etwas Alltägliches zum Problem gewachsen. Heute muss Paul, der mit seiner Wuschelfrisur und den hippen Klamotten so gar nichts von einem Computer-Nerd an sich hat, jeden Klick zweimal überdenken – er könnte rückfällig machen.

Los ging es in der Pubertät. Mit 14 Jahren entdeckt Paul die Welt der Onlinerollenspiele. Wie vor, mit und nach ihm Millionen Jugendliche und auch Erwachsene weltweit. Von umstrittenen PC-Spielen wie World of Warcraft oder Counterstrike wird er in den Klammergriff genommen. Im Kinderzimmer steht der Rechner, die Eltern mahnen, nicht die ganze Zeit vor dem Bildschirm zu hängen. Doch mehr passiert nicht. Weil die Grenze zwischen Normalität und dem Zuviel verschwimmt, bleibt das entschiedene Nein aus. Zudem überhört der Teenager die gut gemeinten Appelle seiner Eltern. Und findet sich dabei rebellisch.

Einfach weniger zu spielen, das geht ohnehin nicht. Dafür ist er zu eng an seinen virtuellen Charakter gebunden. Denn der ist immer schon perfekter gewesen als Paul selbst: mächtig und brenzligen Entscheidungen gewachsen. Ein Anführertyp. Ganz anders als Paul. „Ich würde mich nicht als Außenseiter bezeichnen, aber meine Freundschaften waren nie so erfüllt. Ich bin auch ein ängstlicher Mensch, das habe ich online kompensiert. Dort war ich mutig und Teil einer Gruppe. Es ist eine Subkultur für sich, die man real erlebt.“ So real, dass Paul Grenzen überschreitet. Im Spiel verliebt er sich in einen anderen virtuellen Charakter. „Ich war damals sehr unsicher und ängstlich und habe mich nicht getraut, in der realen Welt eine Beziehung einzugehen, aus Scham und Angst zu versagen. Stattdessen bin ich in die virtuelle Welt geflohen, weil ich dort sicher davor war und vermeintliche Liebe erfahren konnte.“ Weiter vertiefen will er das nicht. Die Verletzungen sind zu frisch.

Die Situation spitzt sich zu, als Paul für das Studium von zu Hause auszieht. Es ist der Punkt, an dem ihm jegliche Tagesstruktur entgleitet. In seiner WG isoliert er sich. Tage verlaufen nach dem immer gleichen Muster. Und zum Spielen kommen neue Medien hinzu. Auf YouTube klickt er sich über Stunden von einem Video zum nächsten. „Ich gehe jetzt ins Internet – das war meine einzige Option. Etwas anderes war nicht in meinem Kopf.“ Erst sein Mitbewohner rüttelt ihn wach. Ganz direkt fragt der irgendwann, ob Paul Depressionen hat. „Ich glaube, da habe ich erst angefangen, eine andere Perspektive zuzulassen.“

In der Therapie lernt er, die Sucht zu akzeptieren – und auch ihre Folgen. Paul kann sich schlecht konzentrieren, manchmal fallen ihm Wörter nicht ein. Für ihn ist die Rückfallgefahr immens hoch, weil am Internet kaum vorbeizukommen ist. Abstinent zu bleiben, ist unheimlich schwer. Auf ein Ziel will Paul jetzt hinarbeiten: Unterhaltung und Internet trennen. Er merkt, wie viel Freizeit dadurch entsteht. Er füllt sie mit Sport und sagt, sein Leben entwickele sich positiv. Eine Erkenntnis wird ihn auf seinem Weg begleiten: Einen befreiten Umgang mit dem Internet wird er vermutlich nie mehr haben.

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.