Jetzt reißt euch mal zusammen!

Sachsen im beginnenden Frühling: Endlich kommen sie alle heraus, die monatelang auf Licht warteten. Sie breiten Decken aus, lassen Proseccokorken ploppen und blinzeln glücklich in die Sonne. Diese Bilder gab es am Dresdner Elbufer, im Alaunpark, in zahlreichen Biergärten im ganzen Freistaat. Ach du schöne Corona-Zeit!
Und manch einer plauderte dort, im Park oder Café, über eine drohende Ausgangssperre, die sicher kommen werde – aber solang könne man ja noch das Wetter genießen. Zumindest vorerst kommen wir auch um sie herum. Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte im SZ-Interview, eine Ausgangssperre sei das „allerletzte“ Mittel, „das niemand will“.
Ausgangssperre, schon das Wort klingt bedrohlich nach Eskalation und maximaler Autorität der Mächtigen. Sie kann nur die letzte Wahl sein, weil sie das wichtigste aller Grundrechte beschneidet: die Freiheit.
Denn die Folgekosten können massiv sein. Schon jetzt warnen Jugendämter und Frauenhäuser vor einem Anstieg der häuslichen Gewalt, weil Kitas und Schulen als Kontrollinstanzen wegfallen. Und auch abseits diese extremen Folgen muss man einsehen, dass sich „social distancing“, soziale Distanz, in einem Haus mit Garten locker bewältigen lässt – in einer kleinen Plattenbauwohnung mit zwei Kindern aber weniger. Es ist wichtig, auch die Schäden zu benennen, die eine Ausgangssperre anrichten kann.
Eingriff in die persönliche Freiheit?
Eben darum ist es richtig, dass die Politik nicht zu leichtfertig die drastische Maßnahme ergreift, sondern in den anderen sächsischen Regionen weiterhin auf die Vernunft der Einzelnen setzt. Inzwischen sollte man meinen, dass jede und jeder verstanden hat, warum man einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus entgegenwirken muss. Doch leider reicht dieses Wissen offenbar nicht aus.
Zum Teil ist das verständlich. Wir Menschen sind keine Maschinen, wir brauchen Zeit, uns an neue Zustände zu gewöhnen. Das Coronavirus bleibt für viele eine unsichtbare Gefahr, wie gemacht dafür, um es zu verdrängen. Dazu kommt der den Deutschen sehr eigene Hang, Regularien und Verbote als Eingriff in die persönliche Freiheit zu begreifen. Wer auch immer das Vorurteil aufgebracht hat, dass sich Deutsche gern an Regeln halten, der muss sich jetzt nur einmal die Videos im Internet ansehen, auf denen sich Menschen um Toilettenpapier prügeln. Mehr als Disziplin liebt der Deutsche die Erfüllung seiner ganz individuellen Bedürfnisse hier und jetzt – egal, wie es anderen dabei geht.
Jeder hat seine Gründe, die Empfehlung des Abstandhaltens zu ignorieren. Manche legen simple Risikoberechnungen zugrunde, andere meinen, es müsse schließlich eine gewisse Durchseuchung mit Corona stattfinden, sonst würden wir alle in drei Monaten krank.
Und so wird sich in diesen Tagen wider aller Vernunft zum Familienfest getroffen, zu Konferenzen in engen Räumen, am Späti kreist die Bierflasche. Eltern bilden fluktuierende Gruppen, in denen mal der eine, dann der andere ansonsten arbeitende Elternteil die Betreuung der dauerrotznasigen und dauerkuschelnden Kinder übernimmt. Und das ist keine Freiheit mehr, es ist gefährliche Ignoranz.
Bleiben Sie zu Hause!
Was auch immer die Gründe sind, sich den allgemeinen Empfehlungen zum Abflachen der Kurve zu widersetzen: Zum Grundrecht Freiheit gehört essenziell, dass es beschränkt wird durch die Freiheit anderer. Und die anderen, das sind in Pandemie-Zeiten ältere Menschen, Immunschwache oder jene, die für das Weiterfunktionieren des Gesundheitssystems gebraucht werden. Es geht hier nicht mehr um die eigene Ansteckung, die man als gesunder Mensch vielleicht verkraften würde. Es geht schlicht um den Schutz derer, die eine Corona-Infektion weniger locker wegstecken würden. Es geht um jene, die in Krankenhäusern nicht mehr behandelt werden können, wenn alle Betten belegt sind. Denn das steckt hinter der unscharfen Formulierung „Überlastung des Gesundheitssystems“: Es geht im Klartext um genug Betten, genug Beatmungsmasken, genug Ärzte für möglichst wenige Kranke. Es geht darum, dass wir nicht in einigen Wochen Leichenberge in Armeefahrzeugen zu vermelden haben wie Italien.
Dies ist der schmerzhafte Moment, an dem wir einsehen müssen, dass der individuelle Freiheitsgedanke nicht immer der richtige Wegweiser ist. Wir hatten die Chance zu zeigen, dass wir zu vernünftigen Entscheidungen in der Lage sind. In Dresden ist sie nun vertan. Anderswo sollten wir sie nutzen – und uns zusammenreißen. Bleiben Sie zu Hause!
Über das Coronavirus informieren wir Sie laufend aktuell in unserem Newsblog.