Corona: OB kritisiert Bevormundung

Kamenz. Spaziergänger zogen am 1. Mai über den Kamenzer Markt und durch Nebenstraßen. Ein mehr oder weniger stiller Protest gegen aus Sicht der Teilnehmer unverhältnismäßige Auflagen in der Corona-Krise und auch den Maskenzwang. Bürger forderten im Gespräch, wieder selbstbestimmt leben zu können, dass Schulen schnellstens in den Normalbetrieb gehen und Gaststätten öffnen, dass kritische Fachleute nicht ignoriert werden. Der Kamenzer Oberbürgermeister Roland Dantz (parteilos) machte sich selbst ein Bild vom Corona-Spaziergang auf dem Kamenzer Markt. Über seine Eindrücke spricht er in einem Interview mit Sächsische.de.
Herr Dantz, Sie waren vor Ort, haben sich mit Teilnehmern unterhalten. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Mit dem einen oder anderen bin ich ins Gespräch gekommen. Natürlich werde ich als OB auch angesprochen. Nur scheint mir, dass da die Meinungen zum Teil sehr festgefahren waren. Auf der Straße ist dann wenig Spielraum für einen Gedankenaustausch.
Die Spaziergänge sind Ausdruck einer Corona-Müdigkeit. Haben Sie Verständnis für eine sinkende Akzeptanz der Corona-Regeln?
Vor vier bis sechs Wochen haben die Entscheidungsträger deutlich gemacht, dass sie über das Coronavirus relativ wenig wissen. Es bestand die Angst, dass die Infektionsrate derartig ansteigt, dass unsere Intensivstationen „überlaufen“ und dass dann ausgewählt werden muss, wer an ein Beatmungsgerät kommt und wer möglicherweise nicht.
Man hat auch deutlich gemacht, dass es bei den Kontaktbeschränkungen darum geht, Zeit zu gewinnen, um auch die Anpassung der medizinischen Versorgungsbereiche zu ermöglich. Die Kehrseite ist, dass in den letzten sechs Wochen unser Alltagsleben und insbesondere das von einigen Berufsgruppen wie Gastronomen oder Inhabern von Fitness-Einrichtungen extrem beschnitten wurde.

Sie haben also ein gewisses Verständnis für den Protest?
Ich denke, es war legitim von Bund und Land, so zu handeln und zu reagieren, wie es geschehen ist. Wir haben uns auch im Kamenzer Stadtrat klar positioniert und zur Einhaltung der Regeln aufgerufen. Wir haben allen Kamenzer Bürgern eine Grundausstattung mit Mund-Nase-Masken zur Verfügung gestellt.
Genauso legitim ist es, anderer Meinung zu sein. Das wird unsere Demokratie aushalten. So sind auch Proteste genauso denkbar. Aber ich frage mich, ob sie notwendig sind. Wenn man sich für diesen Weg der Ausgangsbeschränkungen ausspricht, müssen die Folgen mit den Menschen eben sehr klar kommuniziert werden.
Wurde das versäumt?
Wenn eine hohe Ansteckungsgefahr besteht oder wie vor wenigen Wochen befürchtet werden musste, dann sind unsere Möglichkeiten, miteinander ins Gespräch zu kommen, mehr als eingeschränkt. Daran ändern digitale Plattformen nichts. Wahr ist, die Differenz zwischen Infizierten und Genesenen wird immer kleiner. Das ist ein guter Trend.
Nun stellt sich die Frage für viele Menschen, ob die ausgesprochenen Beschränkungen und der damit verbundene Eingriff in die Grundrechte, der zum Beispiel dazu führt, dass manch einer seinen Beruf nicht mehr ausüben, sich nicht mehr frei bewegen kann, ob diese Eingriffe des Staates derzeit weiter gerechtfertigt sind. Vor 14 Tagen hätte ich durchaus strenger geurteilt als heute.
Sollten die Einschränkungen also schneller oder ganz zurückgefahren werden? Die Spaziergänger äußerten im Gespräch die unterschiedlichsten Forderungen.
Ich kenne eine ganze Menge an Menschen, für die es wichtig ist, die unterschiedlichsten Meinungen und Argumente kennen zu lernen. Und weil Corona uns alle angeht, nimmt die Zahl der Virologen, Epidemiologen, kurzum der vermeintlichen Experten rasant zu. Ich bin Bauingenieur und muss mich – wie andere auch – auf die Meinung von Fachleuten verlassen. Und auf mein eigenes Urteilsvermögen.
Es war und ist das Anliegen, Risiken zu vermeiden. So hat sich letztlich kein Minister, kein Entscheider wirklich übervolle Intensivstationen gewünscht. Nein, die Regierung hat alles getan, um es zu verhindern, auch wenn es extreme Härten bedeutet. Aber sie hat Vorsorge getroffen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass staatliche Verantwortungsträger Freude daran haben, Schulen zu schließen und Spielplätze abzusperren.
Aber jetzt sind wir etwas schlauer…
In der Zwischenzeit wissen wir etwas mehr über die Übertragungswege. Die Infektionszahlen sind nachprüfbar. Jeder kann sie dennoch kritisieren. Rückwärts betrachtet stellt sich immer die Frage: Was ist angemessen? Hätten Bund und Land weicher reagieren können?
Jetzt gilt: Solche Sanktionen sind mit Augenmaß und Vernunft zu verhängen. Und es kann auch berücksichtigt werden, dass in Frankreich, Bayern, Sachsen oder in der Oberlausitz ganz unterschiedliche Verhältnisse vorherrschen. Es ist wichtig, differenziert darauf zu reagieren.
Schlagen Sie also angesichts der aktuellen Corona-Zahlen und einer sinkenden Akzeptanz für die Einschränkungen eine noch zügigere Lockerung in Sachsen vor?
Einmal greift staatliche Gewalt in unsere persönlichen Freiheiten ein. Und zum anderen ist eine Gefährdungslage, wie sie vor sechs Wochen möglicherweise angenommen werden musste, zumindest in Sachsen/Ostsachsen nicht erkennbar. Natürlich will keiner eine zweite Corona-Welle erleben. Wir sind aber gut beraten, auf das Verstehen und auf die Akzeptanz des mündigen Bürgers zu achten.
Im Moment schaukelt sich eine Art von Bevormundung hoch. Das wird durch das Kontaktverbot - dass sich nur Angehörige zweier Haushalte wieder treffen dürfen - eher noch unterstrichen. Selbst wenn die Lage immer noch fragil ist, zeigt sich doch, dass wir mit dem Virus leben müssen. Die Lage kann sich, ob wir es wollen oder nicht, täglich ändern. Fakt ist, insbesondere ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und vor allem Patienten in Krankenhäusern und Pflegeheimen müssen geschützt werden.
Viele Spaziergänger kritisierten die Einschränkungen des Grundgesetzes, das Versammlungsverbot. Sie sehen das auch kritisch. Wie stehen Sie dazu?
Die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, die jedem Menschen zustehen, sind Grundrechte. Eingriffe sind immer wieder neu zu rechtfertigen. Ich bedaure es, dass im Zuge der Lockerung in der Kommunikation der Eindruck erweckt wurde, dass im gewissen Sinne „generös“ wieder etwas erlaubt wird. Es handelt sich um Persönlichkeitsrechte, und die Einschränkung derselben ist zu rechtfertigen, nicht anders herum.
So sehe ich auch Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Demos in Corona-Zeiten. Das Gericht pocht sehr nachvollziehbar auch in der Coronavirus-Krise auf die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit. Diese ist aber auch kein Freibrief für jedes denkbare Verhalten. Die Spielregeln, die Grundlagen der sächsischen Corona-Schutzverordnung, wie beispielsweise die Abstandsregeln, gelten für jeden.
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