Heute wie damals - Kamenzer Lessingschüler gehören zur Elite. Doch während sich alle „fertigen“ Jahrgänge gern an ihre Abizeit erinnern, klafft zwischen den Pennälern der fünfziger Jahre ein Riss. Immer noch. Anlass: der Arbeiteraufstand von 1953. In dessen Dunstkreis wurden nicht nur ganze Klassen zerrissen. Auch ideologisch halten sich bis heute geteilte Ansichten. „Das wird selbst in eigentlich schöne Aktivitäten Kamenzer Chöre hineingetragen“, sagt ein Angestellter der evangelischen Landeskirche.
Überhaupt zeigen sich der hiesige 17. Juni samt Folgen als schwarzes Loch. Auf den ersten Blick. So lagern im Stadtarchiv – zwar stark gelichtet und verstreut – originale Unterlagen. Jedermann zugänglich. Spektakuläres Beispiel: die Verhängung des Ausnahmezustandes. Er wurde von Bürgermeister Lothar Steglich (SED) erlassen. Natürlich auf Geheiß von „oben“. Das bedeutete im konkreten Falle durch den russischen Kommandanten. Parallel erteilten Landratsamt und Partei Order. Demnach war laut Steglich-Erlass „kathegorisch verboten a.) Demonstrationen, b.) Meetings und c.) Versammlungen“ abzuhalten. Punkt d.) verbietet darüber hinaus „Zusammenkünfte und Ansammlungen von Bürgern“. Auch privat! Kinos, Theater und alle Lokale hatten ab neun Uhr abends dicht zu bleiben. Bis 6 Uhr am nächsten Morgen musste jeglicher Fahrzeugverkehr ruhen. Eine Stadt stand still. Am 18. Juni folgte eine neue „Bekanntmachung“. Wieder waren „öffentliche Versammlungen“ tabu. Erneut blieben alle öffentlichen Gebäude und Vergnügungseinrichtungen von 21 Uhr an zu. Bis 5 Uhr durfte es „nur eingeschränkten Personenverkehr“ geben. Zur Stützung dieser Lähmung bürgerlichen Lebens wurde „Bestrafung nach Regeln des Ausnahmezustandes“ angedroht ...
Organisierte Bewegung dagegen in den produzierenden Betrieben. Alle Räder drehten sich! Vereinzelte Streikbemühungen wurden sofort unterdrückt. Ebenso Redeversuche. Nach Auskünften alter Kamenzer waren am 17. Juni bereits 9 Uhr stadtweit Polizisten aufgefahren. Das Gros der Uniformierten leistete schlagkräftige Unterstützung in Bautzen. Und doch streikten Kamenzer. Nicht vor Ort, sondern bei ihren Kollektiven im Sachsen-Werk (Dresden-Niedersedlitz) und in Firmen des Industriegeländes der Elbestadt.
Schon Wochen später verbesserte sich die Versorgungslage. Auch in Kamenz. Dank des Ministerratsbeschlusses von Ende Juni. Eine Kamenzer HO-Frau berichtete in einer Fachsitzung von freudiger Aufnahme des Plus an Kaffee.
Nicht mehr und nicht weniger ist bekannt. Bislang. So sind sämtliche Stadtratsakten des Monats Juni verschwunden. Der 17. Juni in Kamenz harrt umfassender Aufarbeitung. Die Lessingstädter hüllen sich noch immer in Schweigen. Verdrängen. Oder vergaßen einfach, zu reden. „Wir haben nie darüber gesprochen“, sagt Manfred Neumann heute. Sein Vater war 1953 Vizebürgermeister. „Viele haben Angst“, sagt ein Zeitzeuge an anderer Stelle. Fakt sind bislang Schulverweise gegen christliche Lessing-Schüler. Bereits Monate vorher hatte es Hetzkampagnen seitens der FDJ-Konkurrenz gegeben. Die „Junge Welt“ druckte im April 1953 eigens eine Sonderausgabe. Überschrift: „,Junge Gemeinde‘ - Tarnorganisationen für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag“. (tH)