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Karriere mit Vitamin B und Parteibuch

Der Fachkräfte-Exodus aus den Balkanländern hält an – vor allem Ärzte suchen in der Fremde ihr Glück.

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© Reuters

Von Thomas Roser, SZ-Korrespondent in Belgrad

Mager bezahlte Arbeit hat unsere Nachbarin Mira eigentlich genug. Doch nun lässt der Masseurin die harte Fron des Sprachunterrichts zum Nachbarschaftsplausch noch weniger Zeit. „Puh, Ungarisch ist wirklich schwer“, klagte sie unlängst, während sie sich in einer kurzen Pause auf unser Sofa fallen ließ. Irgendwie hatte ich wohl etwas verpasst – Miras neue linguistische Neigungen waren mir bis dahin völlig entgangen. „Warum lernst du denn ausgerechnet Ungarisch?“, fragte ich neugierig. „Ich will doch nach Schweden“, so ihre etwas verblüffende Antwort.

 Von Besuchen bei ihren in Göteborg lebenden Angehörigen weiß Mira, dass Masseure in Schweden gefragte Arbeitskräfte sind. Doch mit dem serbischen Pass bleibt ihr die Auswanderung ins Arbeits-Reich der klingenden Kronen verwehrt: Es ist die Aussicht auf den ungarischen EU-Pass, die Mira nun kräftig die langen Vokabeln der Magyaren pauken lässt.  Zu Serbiens ungarischer Minderheit zählt Mira zwar keineswegs. Doch großzügig stattet der nach dem Ersten Weltkrieg kräftig geschrumpfte Donaustaat alle Nachfahren der früheren Bewohner seines einstigen Territoriums mit dem ungarischen Pass aus – sofern ausreichende Sprachkenntnisse beim Plausch mit dem Konsulatsbeamten nachgewiesen werden können.

 Den Drang in die Fremde verspürt nicht nur unsere Nachbarin. Fehlende Perspektiven, geringe Gehälter und eine hohe Jugendarbeitslosigkeit selbst unter Akademikern lassen alljährlich Zehntausende – überwiegend junge Serben, Kroaten oder Bosnier ihr Heil in der Emigration suchen. Auch bei den EU-Nachbarn Bulgarien, Rumänien oder Ungarn suchen immer mehr Ärzte und Ingenieure ihr Arbeits-Glück in der Fremde. Allein Rumänien hat seit dem EU-Beitritt 2007 über 14 000 abgewanderte Ärzte verloren – die Zahl der ausgewanderten Krankenschwestenr und Pfleger wird gar auf das Zwei- bis Dreifache geschätzt.

 Auch mein früherer Büro-Nachbar Andreja ist schon weg. Nach seinem Studium in Belgrad hatte der Jungmediziner vergeblich versucht, eine Anstellung als Assistenzarzt in seinem eigenen Land zu finden. „Entweder musst du in eine Partei eintreten oder irgendeinem Personalchef 20 000 Euro in den Hintern schieben“, erklärte er mir damals frustriert, warum er zunächst als Vertreter eines Schweizer Pharma-Konzerns seine Brötchen verdiente. Schließlich hatte Andreja vom Klinkenputzen im Dienst ausländischer Pillendreher genug. Ein Jahr paukte der Serbe Slowenisch, bevor er in einem Provinzkrankenhaus an der slowenischen Adria seine erste Assistenzarzt-Stelle antreten konnte. Die Bezahlung lasse sich nicht am Salär westeuropäischer Ärzte messen, doch sie sei „anständig“, so die Auskunft des mittlerweile in Sloweniens Hauptstadt übergesiedelten Andreja. Heimweh und Rückkehrgelüste plagen ihn nicht: Inzwischen hat er in Ljubljana eine Wohnung erstanden. 

Auf dem traurigen 141. von 144 Plätzen, aber noch vor dem Tabellenletzten Birma, rangiert Serbien in der sogenannten „brain-drain“-Rangliste des Weltwirtschaftsforums. Während Serbiens Staatschef Tomislav Nikolic derzeit den Arzt seiner Schwiegermutter auf den Direktorposten der größten Belgrader Klinik zu hieven versucht, sorgt derweil im nahen Bosnien und Herzegowina eine ganz andere Mediziner-Karriere für Schlagzeilen. Auch Sebija Izetbegovic hat ihren neuen Job als Chefin der Universitätsklinik von Sarajevo vor allem ihren guten Kontakten zu verdanken: Als das muslimische Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums gilt ihr Mann Bakir als einer der mächtigsten Männer des Vielvölkerstaats.

 Leistung werde in Kroatiens korruptem Gesundheitssystem nicht belohnt, Karriere könnten nur Kollegen mit „Vitamin B“ machen, hatte mir schon vor einiger Zeit meine Zagreber Cousine Branka ihr Berufsleid geklagt. Entnervt packte die Anästhesistin schließlich voriges Jahr ihren Arbeits-Koffer – obwohl sie mit ihren 53 Jahren eine gestandene Fachärztin ist. Wesentlich besser entlohnt arbeitet Branka nun an einer Klinik in Wien.

 Ausgewandert ist vergangenes Jahr auch Brankas Tochter Veronika. Obwohl eine der Jahrgangsbesten unter Kroatiens Physikstudenten, konnte sie in ihrer Heimat keine Förderung für ihr Doktorat ergattern. Stattdessen offerierten ihr gleich mehrere Auslandsuniversitäten ein Stipendium. Inzwischen tüftelt die tatkräftige Veronika im schottischen St. Andrews an ihren Zahlenkurven. Ob ihr eigenes Land jemals von ihren Talenten und Kenntnissen profitieren wird, scheint eher unsicher zu sein. Das Leben in der Fremde gefalle ihr gut, erzählte sie kürzlich am Telefon.