Von Reinhard Kärbsch
Die Taschen wiegen mindestens drei, vier Kilo. Sie sind bestückt mit gekochten Kartoffeln, Nudeln, Spirellis, allerlei anderen Schmäckerchen aus der Blechdose, Fressschalen, Teller, Trinkflüssigkeiten... Alles ist bestimmt für etwa 25 Hauskatzen. Diese halten sich in Dresden auf, zwischen Hauptbahnhof und Beutler-Park herumstreunend. Gefüttert werden sie jeden Tag, wirklich jeden. Jutta und Rudolf Sitte tun das. Das Ehepaar wechselt sich in dieser selbst auferlegten Pflichtaufgabe ab. Seit den 60er Jahren. Bis Mitte 1992 wohnten sie in der Nähe, an der Egon-Erwin-Kisch-Straße. Danach zogen sie nach Königsbrück, 31 Zugkilometer entfernt. Ihre vierbeinigen Freunde haben den Umzug garantiert nicht bemerkt, denn bisher mussten sie nicht einen einzigen Tag auf ihr Futter verzichten, nicht zum Heiligen Abend, nicht am Silvestertag und auch nicht an den Geburtstagen ihrer Freunde.
Also tragen die Sittes, sie 75 und er bald 83 Jahre alt, seither ihre Taschen von der Gartenstraße in Königsbrück bis zur nun städtischen Schnittstelle Bus / Bahn. Solche Kunden braucht die Bahn! Nur zwei- oder dreimal nutzen sie aus irgendwelchen Gründen das ziemlich teure Taxi.
Senioren-Zwangslogik
Aber damit hat sich die tägliche Verköstigung von Stubentigern keineswegs erschöpft. In Königsbrück selbst haben sich gleichfalls etwa zehn Katzen an die Sitte-Bestversorgung gewöhnt – und auch diese Tiere wurden noch nie enttäuscht. Der Weg zur Futterstelle ist allerdings nur halb so weit wie bis zum Bahnhof.
„Das alles ist Senioren-Zwangslogik“, lacht der Kunstprofessor, der Jahrzehnte an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste unterrichtete und mit Künstlerkollegen Ateliers betrieb. Seine Arbeiten sind an der Universität, im SZ-Pressehaus und an zahlreichen anderen Orten in Dresden wie in anderen ostdeutschen Bundesländern zu finden. „Die Leute denken sowieso, wir Sittes seien unverbesserliche und verrückte Katzenfreaks, die einen mitzulaufen haben. Sollen sie ruhig... Es gibt für uns keine Begründung, nicht zu den Katzen zu gehen.“ Die Motivation für dieses entschiedene und ausdauernde Handeln entwickelte sich bei den Sittes allerdings schon in der Zeit nach 1945.
Vor 60 Jahren musste der junge Soldat der Wehrmacht Rudolf Sitte bei Remagen versuchen, den Vormarsch der westlichen Alliierten zu stoppen. Gegnerische Splitter drangen dabei in seine Unterschenkel ein. Später flüchtete er aus französischer Kriegsgefangenschaft – nach Dresden. Von hier aus war er in den Krieg gezogen, das Horst-Wessel-Lied mitbrüllend – „Bis alles in Scherben fällt.“ Das hatte sich ja nun erfüllt. „Wir haben gelitten an Hunger und an der Katastrophe, an den Sorgen um die Eltern, die Geschwister. Das hat unsere Empfindlichkeiten zu den Lebewesen, zu allem Leben, entwickelt, zu den Menschen sowieso, zu den Tieren, zu den Pflanzen“, sagt Sitte heute. Nur sei er von den Menschen inzwischen vielmals enttäuscht worden. „Mit den Katzen ist das anders. Die ersten, die wir fütterten, hausten Ende der 40er Jahre noch in den Ruinen Dresdens. Seitdem haben wir eine tägliche Begegnung mit den Tieren. Diese Lebewesen warten auf uns, wir warten auf sie.“
Die Frage des Bruders Willi
Längst haben sie den Künstler zu Skulpturen und Grafiken inspiriert. Er könnte Bücher voller Katzengeschichten schreiben. „Zeit wäre ja noch“, meint er und rechnet den Tag vor: etwa acht Stunden Katzenarbeit, die gleiche Zeit künstlerisches Tun. „Schlaf brauche ich nicht mehr so viel zur Gesunderhaltung.“ Die Katzen würden das besser tun. Seinem Bruder Willi bestätigte er das kürzlich in Halle beim Geburtstagsbesuch zum 84. Der Ältere, gerade eine Hüftoperation überstanden, aber noch auf Hilfsmittel angewiesen, fragte ihn: „Wie machst du das bloß, springst hier herum wie ein junger Hirsch mit deinen 82 Lenzen?“ „Ja, mein Lieber, es sind die Katzen, die deine Schwägerin und deinen Bruder so auf Trab halten.“