SZ +
Merken

Keine Frage des Alters

Usti. Sprachen lernen nur die Jungen? Von wegen. In Usti treffen sich Leute von 20 bis 80 – um eifrig Tschechisch zu pauken.

Teilen
Folgen

Von Anneke Hudalla

Vor ein paar Jahren noch hätte Hilde Wolf sich Derartiges sicherlich verbeten: Getuschel, Geschummel, Vorsagen. Damals stand die elegant zurechtgemachte ältere Dame noch selbst vor einer Realschulklasse in Augsburg. Jetzt sitzt die pensionierte Lehrerin zusammen mit sieben anderen Herren und Damen im zehnten Stock eines Studentenwohnheims in Usti (Aussig) – und bereitet sich darauf vor, gleich einen Satz aus dem Tschechischen ins Deutsche zu übersetzen: „Was heißt nochmal ‚strekovske‘?“ fragt sie ihren Banknachbarn leise. „Schreckensteiner“ flüstert der Gefragte verstohlen zurück. Die „Feuerzangenbowle“ lässt grüßen.

Ein ganz besonderer Kurs

Wie Hilde Wolf brüten seit knapp einer Woche etwa 50 Tschechisch-Fans in Usti über Lehrbüchern und Grammatiken. Denn zum mittlerweile 15. Mal veranstalten die Ackermann-Gemeinde, ein christlich orientierter Verein sudetendeutscher Vertriebener, und die Universität Usti derzeit die „Colloquia Ustensia“: Zwei Wochen lang wird tagsüber vier Stunden lang in kleinen Gruppen Tschechisch gelernt. Nachmittags kann, wer will, an Ausflügen in die Umgebung und bis hinüber nach Liberec (Reichenberg) teilnehmen. Abends stehen Vorträge zu tschechischer Kultur und Geschichte auf dem Programm. Ähnliche „Sommerschulen“ bieten mehrere tschechische Universitäten in den Semesterferien an. Und doch ist der Kurs in Usti etwas ganz Besonderes: Denn hier treffen nicht nur junge Studierende aufeinander – sondern auch Menschen, die die 70 bereits deutlich hinter sich gelassen haben.

Auch für Anfänger geeignet

„Ins Leben gerufen wurde der Sprachkurs eigentlich in einer Art Tauschgeschäft“ erklärt Karl-Heinz Plattig, Physiologe an der Universität Erlangen und zugleich Begründer der „Colloquia Ustensia“. „Ich bin 1931 in Bilin, etwas westlich von Teplice, geboren“, erzählt er. „1990/91 wurde ich dann von Wissenschaftlern aus Usti gebeten, bei der Gründung der Uni hier beratend zur Seite zu stehen – und als sie mich dann gefragt haben, was sie zum Dank für mich tun könnten, da habe ich gesagt: Helft uns doch, hier einen Sprach- und Kulturkurs einzurichten.“

Wie für Karl-Heinz Plattig bedeuten die „Colloquia Ustensia“ auch für viele andere Kursteilnehmer eine Rückkehr in die eigene Familien-Geschichte. „Viele meiner Schüler sind hier in Nordböhmen geboren“, sagt Helena Pavlickova, die die vierte Sprachstufe unterrichtet. „Deshalb haben wir sowohl im Unterricht als auch beim Kulturprogramm sehr viel über die Themen ‚Kindheit in Böhmen‘ und ‚Vertreibung‘ gesprochen.“ In diesem Jahr hat sich „ihre“ Gruppe jedoch das Thema „1950er/60er“ Jahre gewünscht. Und so hat sich Helena Pavlickova selbst hingesetzt und sich an den Alltag zur Hochzeit des Sozialismus erinnert.

Das Alter ist nicht wichtig

Verstaatlichung, Vollbeschäftigung, Schwarzmarkt – ganz einfach ist das Vokabular der 1950er Jahre nicht. „Aber dafür, dass meine Schüler in Deutschland extrem wenig Gelegenheit haben, tschechisch zu sprechen, beherrschen sie die Sprache schon ziemlich gut“, lobt Pavlickova. Zwar lernten jüngere Menschen Sprachen leichter. „Aber wenn man älter ist, hat man mehr Erfahrung“, meint sie dann. „Und vor allem sind meine Leute hier hoch motiviert.“