Russland will jetzt keine Schwäche zeigen

Von Klaus-Helge Donath, SZ-Korrespondent in Moskau
"Wo sind die Masken?“, schreien Arbeiter durcheinander. Die Sprache der Öl- und Gasarbeiter im Norden der Teilrepublik Jakutien ist deftig. Ständig unterbrechen Pieptöne die Aufnahmen. Den Zensurbehörden soll kein Vorwand geliefert werden. Verletzende und unsaubere Sprache kann mitunter zu empfindlichen Bußgeldern führen.
Die Arbeiter im Tschajandi-Gebiet in Jakutien sind aufgebracht. Mehr als 10.000 Arbeiter fördern für den Gazprom-Konzern in der sibirischen Region Öl und Gas. Die Männer hausen dort in Wohncontainern auf engem Raum und ohne Schutzmaßnahmen. Seit Mitte April sitzen sie dort. Einige von ihnen hatten sich mit dem Coronavirus infiziert. Letzte Woche platzte ihnen der Kragen und sie gingen an die Öffentlichkeit. Tagelang hatten sie auf Ergebnisse gewartet. Die Corona-Tests waren in ein Labor in Moskau ausgeflogen worden, Tausende Kilometer entfernt.
Jakutiens Gesundheitsministerium gab die Daten schließlich preis: Fast 3.500 Arbeiter seien positiv getestet worden. Der Republikchef sah es unterdessen anders. Lediglich 39 seien vom Virus befallen, behauptete er. Die ursprünglichen Angaben des Gesundheitsministeriums waren danach nicht mehr zugänglich.
Kein Wunder, dass viele Bürger auch Moskaus offiziellen Infektionszahlen kaum Glauben schenken. Dabei hat Russland mit seinen massiv steigenden Fallzahlen nun auch Deutschland überholt. Nach offiziellen russischen Angaben stieg die Zahl der Neuinfektionen am Mittwoch erneut um mehr als 10.000 auf 165.929. Damit steigen die Fallzahlen trotz massiver Ausgangssperren prozentual so stark wie in keinem anderen Land.
Höhepunkt erst Mitte Mai erwartet
Dass es nicht so glimpflich verlaufen werde, ahnte Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin jedoch seit Längerem. Präsident Wladimir Putin hatte den Stadtvorderen vorher zum Chef des Krisenstabes ernannt.
Bei einem Besuch des in Monatsfrist aus dem Boden gestampften Infektionskrankenhauses Kommunarka am Stadtrand Moskaus wies der Bürgermeister Kremlchef Putin Ende März bereits darauf hin, hinter den vorliegenden Zahlen könne sich noch eine hohe Dunkelziffer verbergen. Vor allem über die Verbreitung des Virus in den Regionen sei wenig bekannt, meinte Sobjanin. Präsident Wladimir Putin schien die Gefahr damals anders einzuschätzen und beruhigte verunsicherte Bürger, alles sei wie gewohnt „unter Kontrolle“.
Den Höhepunkt der Epidemie erwartet der Krisenstab erst ab Mitte Mai. Langsam nehmen jedoch die Sorgen zu, dass die medizinischen Einrichtungen auch in der Hauptstadt an Belastungsgrenzen stoßen könnten.
Laut Behörden gibt es jedoch keinen Grund zur Beunruhigung. Auch für den größten Ansturm seien Ausweichquartiere in Vorbereitung, teilte der Krisenstab mit. Eines davon in den Räumen eines riesigen Autohauses, ein anderes auf dem Gelände der sowjetischen „Allunionsausstellung“, wo die Sowjetunion einst ihre Errungenschaften präsentierte. Auch werden Abteilungen anderer Kliniken auf die Schnelle umgerüstet.
Moskau bleibt das Zentrum der Epidemie, trotz zunehmender Infektionen außerhalb der Hauptstadt. Zwei Prozent der Stadtbevölkerung, meinte Sobjanin kürzlich auf seinem Blog, könnten mit dem Virus infiziert sein. Das wären in Moskau bereits 250.000 Menschen, mehr als die offizielle Statistik verrät.

Angeblich soll sich die Pandemie jedoch nicht verschärfen. Die wachsende Zahl spiegele nur die Ausweitung der Tests wider, meint Epidemiologe Alexander Ginzburg vom Moskauer Gamaleja-Zentrum. Gerade in den letzten zehn Tagen seien die Tests verdoppelt worden. Bis vor Kurzem galten russische Tests als wenig verlässlich. Trotz Infektion wurde bei einer Reihe von Testläufen die Hälfte der Probanden als gesund eingestuft. Premierminister Michail Mischustin gehörte nicht dazu. Letzte Woche meldete er sich über Video beim Präsidenten krank. Auch Bauminister Wladimir Jakuschew wurde zum Corona-Fall wie sein Stellvertreter. Sie alle sind im Krankenhaus. Mit den Wünschen einer schnellen Genesung warnte der Präsident: „Jeden kann es treffen.“
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte Moskau alles im Griff. Manchmal mussten Krankenwagen vor den Kliniken in der Hauptstadt und Sankt Petersburg stundenlang mit Infizierten an Bord warten. Bei steigenden Zahlen könnte das noch häufiger werden, befürchten Angestellte aus dem Gesundheitswesen im Netz. Meist bleiben sie anonym, weil sie Konsequenzen fürchten. Erst kürzlich rügte Dmitri Peskow, Putins Pressechef, die Zunft, nachdem sie Forderungen öffentlich gemacht hatte. Schon bei Schutzkleidung, Masken und Handschuhen käme es zu Engpässen, klagen die Mediziner. Haltet Euch an die örtlichen Gesundheitsämter, riet Peskow. Doch diese verwalten oft nur den Mangel.
Meist sind es Privatpersonen oder Aktivistinnen wie Anastasia Wassiljewa von der „Ärzteallianz“, die auf eigene Faust Mangelware auftreiben, Geld sammeln und die Lieferungen auch in der Provinz verteilen. Häufig versuchen Ordnungshüter, sie daran zu hindern. Als wäre es nicht erlaubt. Dutzende Hilferufe von Mitarbeitern im Gesundheitswesen sind auf ihrer Website abrufbereit.
Medizinstudenten zu Zwangs-Praktika verpflichtet
Der Kreml möchte keine Schwäche zeigen. Hilfe von außen benötigt er nicht, auch funktionstüchtig ist er, zumindest vermittelt er dieses Bild. Auch wenn der Präsident inzwischen einen etwas entrückten Eindruck hinterlässt. So als müsse er sich zwangsläufig mit dem Übel befassen.
Tatsächlich sind seit einigen Tagen mehr als 600 Studenten der medizinischen Hochschulen als „Freiwillige“ im Einsatz. Die angehenden Ärzte aus dem vierten und sechsten Studienjahr werden händeringend benötigt. Sobjanin verkaufte dies als Möglichkeit, Praxiserfahrungen zu sammeln. Genauer besehen handele es sich dabei jedoch um kein freiwilliges Praktikum, gesteht ein Student. Der Einsatz werde erwartet. „Wer Angst hat, in einer Infektionsabteilung zu arbeiten, und sich drückt, muss zusehen, wie er ohne das plötzlich zur Pflicht erklärte Praktikum im Studium weiterkommt“, meint die 22-jährige Tatjana.
Die meisten Studenten arbeiten in der „roten Zone“, in der Covid-19-Infizierte untergebracht sind. 40 Minuten dauere es, wenn jemand austreten müsse, meint einer der Assistenzärzte. Den Schutzanzug auszuziehen, sei sehr umständlich. Viele würden sich daher für Windeln bei längeren Schichten entscheiden, meint der Proktologe Andrei Atroschchenko.
Dass die Helfer mit umgerechnet 1.200 Euro im Monat gut bezahlt werden, scheint unterdessen ein Gerücht zu sein. Keiner der Studenten wollte das bisher bestätigen. Gewöhnlich stehen solche Gehälter erst voll ausgebildeten Ärzten zu.

„Kommt es auf die Höhe des Geldes an?“, fragt Daria Belimowa, die das „Freiwilligenprogramm“ beim Gesundheitsministerium koordiniert. „Wenn wir es nicht tun, wer sollte es dann machen?“ Schließlich sei das eine natürliche Eigenschaft des Landes, behauptet sie.
Laut der Zeitung Wedomosti entließ Moskau zwischen 2013 und 2019 mehr als die Hälfte der Mitarbeiter im Gesundheitswesen und stellte das als Reformmaßnahme dar. Darunter waren vor allem Pfleger und Krankenschwestern.
Nach anderthalb Monaten in Quarantäne hätten viele den Eindruck, das Schlimmste läge hinter ihnen, meint hingegen Alexei Gudoschnikow vom populären Radiosender „goworit Moskwa“. Nach einer Woche hatte jeder noch Angst, fünf Wochen später scheint auch die verflogen zu sein, obwohl die Zahl der Infizierten heute um das Zehnfache höher liege, sagt er. Dennoch sind nach einer Umfrage von Romir Gallup 78 Prozent sehr beunruhigt wegen des Virus. 90 Prozent waschen häufiger die Hände und gehen seltener auf die Straße. 65 Prozent sind bereit, auch verschärfte Maßnahmen der Regierung noch mitzutragen. Bislang beklagten sich auch nur fünf Prozent über finanzielle Schwierigkeiten.
Das Virus hat Moskau auch verjüngt. Die 1,7 Millionen Rentner der Hauptstadt sind zurzeit kaum in der Stadt anzutreffen. Viele sind seit der Verhängung der Quarantäne in die Datscha aufs Land gefahren. Zwar gab es auch mehrere Infektionen in Altersheimen. Anders als in Deutschland leben indes nur etwas mehr als 100.000 Rentner in Heimen.
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