Von Carolin Barth
Nowerina balanciert mühelos auf dem Seil im Schulgarten. „Und nun du“, ruft sie dem blonden Mädchen zu. Gemeint ist Lucienne, ihre Banknachbarin im Klassenzimmer und Nowerinas Tante. Sie versucht nun, übers Seil zu schweben. Beide Kinder lachen. Erst recht, weil Nowerinas Mama um die Ecke biegt und ihre Tochter in die Arme schließt. Sie holt sie aus der Großharthauer Grundschule ab. Gleichzeitig ist sie die Omi des blonden Mädchens. Tante und Nichte in einer Klasse. Das ist ungewöhnlich. Doch Nowerinas Geschichte ist mehr als nur eine nicht alltägliche Familiengeschichte. Sie ist ein kleines Wunder.
Die siebenjährige Nowerina, von allen Noel gerufen, hat keine Ähnlichkeit mit Mama und Tante. Sie stammt aus Uganda. Ihre Haut ist dunkel, ihr krauses Haar kaum zu bändigen. Beim Balancieren trägt sie ein sonnengelbes Shirt. In diesem unbeschwerten Moment auf dem Großharthauer Schulhof ist es nur die Brandnarbe auf der Wange, die vom früheren, elenden Leben im Slum übrig blieb. Das Ehepaar Metzke aus Fischbach rettete ihr Leben. Das Paar adoptierte das Mädchen Ende vergangenen Jahres. Nach Angaben des Statistischen Landesamtes Kamenz war es die erste Auslandsadoption im Landkreis Bautzen seit 1995 – seitdem werden die Zahlen erfasst. In Sachsen wurden bisher 55 Kinder aus dem Ausland adoptiert.
2006 begann für Familie Metzke das Abenteuer ihres Lebens. Über die Dresdner Jesusgemeinde nahmen sie an einem kirchlichen Austausch in Südafrika teil. „Wir bereisten das Land drei Wochen lang und fuhren schließlich durch ein Slum in Kapstadt“, so die 52-jährige Kristina Metzke. Sie sah erbärmliche Hütten und verwahrloste Menschen. Unvorstellbar bis dahin. „Mir war die ganze Zeit übel.“ Danach die verzweifelte Frage „Wie kann man da helfen?“ Sie wollte noch mehr tun, zusätzlich zu einer bereits bestehenden Kinderpatenschaft in Uganda. Kristina Metzke verspürte das Bedürfnis, ein Kind zu sich zu holen. „Weil wir über unser Patenkind Kontakte nach Uganda hatten, hörten wir von Noel“, sagt sie. „Es wurde dringend Geld gebraucht für eine ärztliche Behandlung.“ Nowerina hatte bei einem Unfall im Slum lebensgefährliche Brandverletzungen im Gesicht und am Körper erlitten. Sie war zwei Jahre alt. Ihre Kindheit bis dahin kein Leben. Der Vater war bei einem Unfall gestorben, die Mutter an Aids. Nowerina hauste im Slum bei der Tante, die als Prostituierte arbeitete. Sie trug nie Kleider am Leib, hungerte, verwahrloste im Dreck.
Metzkes bezahlten die rettende Behandlung und reisten 2007 erstmals nach Uganda. Sie wollten Nowerina aufnehmen und mit den vier leiblichen Kindern ihre neue Familie sein. Sie spürten, dass das Kind aus Afrika dazugehören sollte, im Herz und amtlich besiegelt. Ugandische Behörden hatten einer Adoption rasch zugestimmt. Gleichzeitig beantragten Metzkes beim Landesjugendamt Chemnitz die Auslandsadoption. Der Anfang eines fünf Jahre andauernden Kampfes.
„Als ich Nowerina das erste Mal sah, war das wie Liebe auf den ersten Blick. Sie lag auf meiner Brust und schlief seelenruhig“, so Kristina Metzke. Das Mädchen fühlte sich sicher und geborgen. „Ich wollte sie nicht mehr hergeben.“ Umso schwerer fiel das Warten auf die Adoption. Die Mühlen der Bürokratie mahlten langsam. Die deutsche Botschaft in Uganda stellte sich quer, wollte die Adoption nicht anerkennen. Eine zermürbende Zeit. Mehrmals reiste Kristina Metzke ins heiße Uganda, um bei Nowerina zu sein. Immer wieder auch Gelegenheit, Aufbauhilfe zu leisten. 2007 hatte sie den Verein „Lichter der Hoffnung“ gegründet. Sein Waisenhaus bietet heute zwölf Kindern ein Zuhause mit fließend Wasser und menschlicher Wärme. Hier lebte Nowerina mit ihrer neuen Mama, während sie sehnsüchtig auf die Adoptionsanerkennung warteten. Nowerina lernte Alltägliches, Zähne putzen und Essen mit Besteck. Sie lernte spielen und malen. Eben Kind sein. Auch mal trotzig.
Im November 2012 schließlich durften Metzkes ihr fünftes Kind nach Hause holen, in die Großfamilie, zu der inzwischen fünf Enkel gehören. Alle freuten sich auf das zarte Mädchen. „Noel wollte unbedingt zu uns kommen, immer wieder hatte sie gefragt, wann es endlich losgeht.“ Nun durfte sie endlich ihr Kinderzimmer beziehen in Fischbach, mit bunten Wänden, Puppen und einem Schrank voll hübscher Anziehsachen. Weil sie doch so gern schön aussieht. Das Fremde war schnell vertraut.
„Für uns ist es ein Wunder, wie schnell sich Noel eingelebt hat. Als ob sie immer hier war. Wir hatten einen Traumstart“, sagt ihre Mama und Chefin einer Autowerkstatt. Noch niemals schlugen ihnen ausländerfeindliche Beschimpfungen entgegen, nie schüttelt jemand mit dem Kopf, wenn sie mit Noel an der Hand durchs Dorf geht. Blicke von anderen, klar. Schließlich leben sie auf dem Land. Ein dunkelhäutiges Kind mit Eltern jenseits der 50 sei nun mal nicht alltäglich. Traumstart meint aber auch Nowerinas Aufnahme in der ersten Klasse der Großharthauer Grundschule, mitten im Winter. „Wir wollten sie hier einschulen, weil auch meine Enkelin hier lernt, sie sollte eine bekannte Bezugsperson haben.“ Schulleiterin Regine Heitz zögerte nicht. „Obwohl es eine Herausforderung war. Doch wir stellten uns ihr gern.“ Stolz ist sie, dass die Integration gelungen ist. „Lehrer, Eltern und Kinder hatten keine Vorbehalte.“ Natürlich hat Nowerina Wissenslücken. Das bürokratische Gezerre um die Adoption kostete Zeit, in der sie hätte längst mit Mitschülern lernen können. Doch sie ist clever. Regine Heitz wird nicht bange, wenn sie an ihre schulische Zukunft denkt. Immer besser werde ihr Deutsch und gelingen kurze Sätze. Auch geschriebene Zahlen bleiben in Kästchen.
Uganda ist für Nowerina weit weg. Doch ihre Eltern werden da sein, wenn sie irgendwann sprechen will über ihre Heimat, erfahren will, wo ihre Wurzeln sind. Kristina Metzke weiß, dass schlimme Erinnerungen aufbrechen können. Doch sie verteufelt Uganda nicht. „Wir wünschen uns, dass Noel eine gute Ausbildung bekommt und später hilft in ihrem Land.“ Große Wünsche für ein kleines Mädchen, das jetzt Kind im Glück sein darf. Das mit Papa Quatsch macht, immer sicherer wird auf dem Fahrrad und jeden Abend Gute-Nacht-Geschichten lauscht. „Du bist gut“, flüstert sie ihrer Mama dann zu.
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