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Kind zwischen Kuchen geschmuggelt

Passkontrollen sind bald Vergangenheit. Von den Erlebnissen am Rand der Grenze erzählt diese Serie.

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Schleudersitz

Dieter Otte war 2003 stellvertretender Chef vom Grenzübergang Ludwigsdorf. Aus jenem zurückliegenden Jahr hat er immer wieder ein ganz bestimmtes Bild vor Augen: „Es ist das Bild von einem schrottreifen, klapprigen Kleinlaster einer 78-jährigen Polin. Und diese Frau hatte statt eines normalen Fahrersitzes nur einen wackligen Küchenschemel unter ihrem Hintern!“

Kuchenfuhre

Familie Frank aus Görlitz erhielt vor einigen Jahren eine Geburtstags-einladung aus Zgorzelec und sagte freudig zu. „Was wir nicht bedacht haben: Vor wenigen Wochen erst wurde unser zweites Kind geboren, und für das Baby haben wir noch keinen Ausweis“, erinnert sich die Mutter. Es war Wochenende und das Einwohnermeldeamt geschlossen. „Mein Mann fragt beim Bundesgrenzschutz nach, ob wir ausnahmsweise mit der Geburtsurkunde passieren könnten: Keine Chance. Wir rufen die Freunde in Zgorzelec an und sagen, dass es Schwierigkeiten mit der Anreise geben könnte. Aber nun ja, wir werden es natürlich probieren zu kommen.“

Pünktlich zum Fest fuhr also die Familie Frank an der Grenze vor. Fünf Personen quetschten sich in den kleinen Golf, vorn die Oma mit einem Kuchenblech auf dem Schoß, hinten Mutti mit den beiden Kindern. Vati zückt vier vorhandene Ausweise und lächelt zaghaft. Der Beamte wirft einen prüfenden Blick in den Wagen, mustert die Insassen in Festkleidung samt der Oma mit dem Kuchen – und lässt alle passieren. „Hat er wegen der beschlagenen Scheiben ein Baby übersehen? Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall genossen wir eine wunderbare deutsch-polnische Geburtstagsfeier und sind auf wundersame Weise auch wieder zurück nach Hause gelangt.“

Kartoffelbad

Matthias Voigt kam als Student Mitte der 90er Jahre nach Görlitz und erfreute sich alsbald am schmackhaften und vor allem preiswerten Gemüse vom anderen Neißeufer. Deshalb verband er seinen Besuch im Zgorzelecer Schwimmbad immer häufiger mit einem auf dem dortigen Markt. Das gesunde Gemüse kam allerdings nicht durch die Kontrolle des Bundesgrenzschutzes. Zwei Kilogramm Kartoffeln wurden konfisziert. Denn: Das Einführen der Knolle ins Gebiet der EU hätte die hiesige Sortenreinheit in Gefahr bringen können. Der Student allerdings trickste die Grenzer aus: „Ich habe fortan meine Wege getauscht: Erst zum Gemüsemarkt, dann ins Schwimmbad“, erzählt er. Feuchtes Handtuch und getragene Unterwäsche stapelte er in seinem Rucksack aufs Gemüse. „Die Taschenkontrolle wurde gelegentlich noch mit spitzen Fingern durchgeführt, aber stets abgebrochen, bevor die Knollen entdeckt wurden.“

Papierverlust

Dorothea Seibel aus Görlitz erinnert sich an einen Tag im Jahr 2002. Ihre Tochter besuchte den Kindergarten in Zgorzelec, damals Przedskola Nr. 3. Es war Mode, in den Medien über dieses Modell mit deutschen Kindern, die den polnischen Kindergarten besuchen, zu berichten. An diesem Tag hatte sich der Deutschlandfunk mit einem Interview angesagt.

„Ziemlich spät breche ich mit dem Kind von zu Hause auf, und weil es in Strömen regnet, nehme ich zum ersten Mal das Auto“, berichtet Frau Seibel und erinnert sich weiter: „An der Grenze suche ich verzweifelt nach den Ausweisen in meiner Handtasche und muss mir eingestehen, dass sie vermutlich in dem Mantel sind, den ich normalerweise anziehe, wenn ich zu Fuß gehe. Der deutsche Grenzbeamte sieht mich hektisch wühlen und winkt mich freundlich durch, ebenso der polnische Kollege. Damals gab es noch zwei getrennte Grenzabfertigungen. In meiner Not denke ich, irgendwie werde ich auch wieder zurückkommen, und fahre dankbar weiter.“

Das Interview wurde aufgenommen. Anschließend fuhr die Görlitzerin mit der beide Sprachen beherrschenden Reporterin an die Grenze. „Wir kommen am polnischen Posten an. Der Beamte versteht meinen Wortschwall nicht, aber die Reporterin erklärt die Situation, und wir dürfen vor zum deutschen Posten. Sie haben keine Papiere, fragt der mich, wie sind sie denn dann rübergekommen?“

Dorothea Seibel erklärte es. Der Beamte wusste nicht recht, was er tun soll. Außer dem Führerschein mit Mädchennamen hatte sie keine Papiere, und auch das Kind konnte sie nicht ausweisen. Schließlich durfte sie fahren. Mit dem Verweis: Tun Sie das nie wieder! „Im Vorbeifahren“, weiß Frau Seibel noch heute, „sehe ich im Häuschen eine junge Beamtin. Sie wendet mir den Rücken zu, aber ich erkenne, wie ihre Schultern zucken: Sie kann sich kaum halten vor Lachen...“

Sportskanone

Jens Schulwitz ist Mitarbeiter am Grenzübergang Ludwigsdorf. Vor einigen Jahren kam ihm ein junger Mann aus dem Abfertigungsbereich rennend auf der Autobahn entgegen. Der Grenzer hielt ihn an und erfuhr: Der Mann war Mitglied einer moldawischen Sportgruppe und auf dem Weg zu Wettkämpfen. Als ihn nach Abschluss der Kontrollformalitäten die Blase drückte, ging er auf Toilette – und draußen fuhr sein Bus einfach weiter. Jens Schulwitz erinnerte sich an den alten Spruch vom „Freund und Helfer“ und holte sich die Autoschlüssel für einen Blaulichtwagen. Mit dem jungen Mann auf dem Beifahrersitz ging es dem Bus hinterher. „Dessen Fahrer war deutlich verunsichert, als wir ihm mittels Anhaltesignal zu verstehen gaben, auf der Autobahn zu stoppen“, berichtet Jens Schulwitz: „Gab das einen Trubel, als die sahen, wer aus dem Auto stieg. Die hatten das Fehlen ihres Sportsfreundes noch gar nicht bemerkt!“

Durchreise

Lothar Voigt reiste in den 60er Jahren gern in das Riesengebirge. Er erinnert sich allerdings weniger gern daran, dass damals immer bis zu sechs Wochen vorher ein Antrag einzureichen war. Auch in das polnische Riesengebirge ging es zunächst nur über die tschechischen Übergänge Hrensko und später Seifhennersdorf. Erst reichlich zehn Jahre später öffnete sich auch für den Individualtouristen die direkte Görlitzer Grenze. „Im Riesengebirge selbst musste man sehr aufpassen, dass man nicht aus Versehen mal kurz die Seiten wechselte. Denn dann gab es Verwarnungen, und man konnte schon mal zwei Tage wegen einer Grenzübertretung eingesperrt werden“, weiß der Görlitzer noch. Übrigens: Auch 1989 brauchte er wieder eine „Reisekarte“, diesmal für die pure Durchreise durch Polen ins Tschechische. „Es ging immer nur nach politischer Wetterlage“, sagt Lothar Voigt schmunzelnd.

Notiert von Ralph Schermann