Plötzlich hielt er es in der Hand. Bei einer Entrümplungsaktion, entdeckt unter zahlreichen Dingen, tauchte es auf. Ein dünnes Heft. Fotos sind enthalten, dazu Aufzeichnungen. Der Dresdner Galerist Lutz Jacobasch blättert das Heft durch. Liest darin, ist fasziniert. Im Reisetagebuch. Von einer Klassenreise ins Riesengebirge.



Klingt erst einmal nicht allzu spektakulär. Schneekoppe, Elbequelle und Rübezahls Reich haben schon viele besucht. Doch diese kurzen Episoden fesseln den Galeristen. Aufgeschrieben von Weixdorfer Schülerinnen im Juni 1928. Der Beginn einer Geschichte, die 85 Jahre später quasi ihr Ende findet. Denn Lutz Jacobasch entwickelt daraus eine Idee. Holt die Malerin Mandy Friedrich ins Boot, um aus diesem Fund etwas zu machen. Ein Gemeinschaftprojekt. Daraus entwickelte sich eine besondere Ausstellung, die jetzt in Weixdorf zu sehen ist.
„Ins Riesengebirge!“ – so das Ziel. Das bis 1945 zum Deutschen Reich gehörte. Am 27. Juni geht es los. 27 Schülerinnen – wahrscheinlich im Alter von 14 Jahren – unternehmen eine Klassenreise. Ihre letzte, eh sie die Weixdorfer Schule verlassen. Mit dabei, ihr Klassenlehrer Hans Fraas und dessen Frau. Nicht alle jungen Mädchen können mitfahren. „Gertrud Kummer ist vom Rad gefallen“, ist in den Aufzeichnungen zu finden.
Mit dem Zug fahren sie ins Riesengebirge. „Selbst als Erika Liliensieck mit einer Freundin auf der Hinreise beim Umsteigen den Zug verpasst, ist das nicht dramatisch – sie nehmen den nächsten Zug, und die Klasse wartet schon auf dem Bahnsteig. Damals fuhren die Züge wohl noch öfter auf den Nebenstrecken“, erzählt Matthias Zwarg eine kleine Episode aus dem Heft bei der Ausstellungseröffnung in der Mittelschule Weixdorf.
Nicht die einzige, die er schildert. Denn die kleinen Geschichten zeigen, wie die Weixdorferinnen die Reise genossen: Bald haben sie die „Neue Schlesische Baude“ erreicht - für die sie zwei Jahrzehnte später ein Visum brauchen würden - und dann wandern sie vier Tage lang „in Rübezahls Reich durch den schönen, grünen Wald“, wandern „Bergauf! Bergab! Immer weiter“, wie sie glücklich schreiben. „War der Magen leer, wurde Rast unter schattigen Bäumen gemacht, und die belegten Bemmen wanderten in den hungrigen Magen.“ Sie sehen die Elbquelle – „Das glaubt uns kein Mensch, der noch nicht dort gewesen ist, wie schön es dort war.“ Sie wandern zur Schneekoppe und necken einander abends in den Zimmern der Herbergen, spielen Hochzeit und lassen sich „knipsen“. „Das war eine Lust zu wandern“, schreibt Dora Sickert.
Doch im Heft fand Galerist Lutz Jacobasch noch mehr. Schwarz-weiß Fotografien, aufgenommen vom damaligen Klassenlehrer Hans Fraas. Diesen Bildern wurde quasi Farbe und irgendwie auch eine Geschichte eingehaucht. Verantwortlich dafür, die Dresdner Malerin Mandy Friedrich. Als Lutz Jacobasch die Idee kam, er das Potenzial dieses Fundes erkannte, suchte er sich eine Malerin, die sie quasi in Bilder umsetzt. Mandy Friedrich malte die Schülerinnen mit dem Wissen der Menschen von heute um die möglichen Hoffnungen und Enttäuschungen der Mädchen von damals.
So wurde eine Ausstellung konzipiert, die nicht nur die Bilder zeigt. Vielmehr können sich die Besucher in der Mittelschule Weixdorf auf Zeitreise begeben. Ergänzt werden die Ölgemälde durch jene Tagebuchaufzeichnungen. Geschrieben damals mit Federhalter in Sütterlin-Handschrift. Für viele heute kaum noch lesbar. Damit diese kleinen Episoden nicht verborgen bleiben, hat die Mittelschule ihren Beitrag geleistet. Drei Schüler der 8b haben die Texte abgeschrieben. Diese wurden neben die Ursprungstexte gehangen. „So kann auch die jüngere Generation lesen, was eine Mädchenklasse Anfang des 20. Jahrhunderts auf Ihren Wanderungen im Riesengebirge erlebte“, heißt es aus der Mittelschule Weixdorf. Ergänzt wird das ganze durch die Fotos, die Galerist Lutz Jacobasch im Heft fand. Wie das Heft zu seinem späteren Fundort kam, weiß keiner.
Bis 12. Juli ist die Ausstellung „Kinder der Vergangenheit“ noch in der Mittelschule Weixdorf, im zweiten Obergeschoss, zu sehen. „Solange es jemanden gibt, der sich dieser alten Bilder und einer eigentlich ganz unscheinbaren Geschichte annimmt, ist diese Hoffnung nicht vergebens“, sagte Matthias Zwarg bei der Ausstellungseröffnung.
Die Hoffnung, dass jemand so ein Heft findet. Durch Zufall, bei einer Entrümplungsaktion. Das ist so, wie mit einer Flaschenpost. Bei der weiß man auch nie, ob sie einer findet. Wenn ja, ob derjenige sie auch so spektakulär findet, wie Galerist Lutz Jacobasch das kleine dünne Heft. Der Beginn einer Geschichte, die 1928 begann und 85 Jahre später fortgesetzt wird.