"Weil ihr uns die Zukunft raubt"

Arbeitslose Ampeln ragen aus der Menschenmasse, die Straßen und Wege begraben hat. Es ist 11.55 Uhr, Berlin ist rappelvoll. Weil auch metaphorisch fünf vor zwölf ist, füllt Umwelt-Protest die Straße zwischen Brandenburger Tor und Siegessäule. Besuchergruppen drängeln traubenweise an die Scheiben der Reichstagskuppel. Die Macht auf der Straße, sie scheint heute interessanter zu sein als die im Parlament. 270.000 Menschen haben sich den Veranstaltern zufolge der Demonstration vor dem Brandenburger Tor angeschlossen. Weltweit sind es viele Millionen, in Deutschland den Veranstaltern zufolge 1,4. Unter dem Motto "Alles fürs Klima" fordern sie die Einhaltung der Klimaziele von Paris, den Stop der Umweltzerstörung. Einen Tag, bevor die Vereinten Nationen in New York ihren Klimagipfel beginnen. Verbände wie Greenpeace, Brot und die Welt oder viele Kirchen machen mit.
Katharina van Bronswijk ist aus Hamburg angereist. Die Therapeutin hält Verdrängung für einen alltäglichen Reflex von Menschen, die sich Gefahren ausgesetzt fühlen. „Durch Dürren und Überschwemmung ist der Klimawandel schon jetzt eine tödliche Bedrohung.“ In bedrohlichen Situationen würden Menschen dazu neigen, Dinge zu verdrängen. So erklärt die 29-Jährige, dass es so weit kommen konnte. Dass die Natur erodiert, die Menschen nur warten. Die psychologische Perspektive auf das Klima ist ihr wichtig. Mit zwei Kolleginnen hat sie die Gruppe „Psychologists for future“ groß gemacht, eine von vielen "For Future"-Gruppierungen, die in den vergangenen Monaten entstanden sind. Für Klimaschutz demonstrieren längst nicht mehr nur Jugendliche.

3.200 Psychologinnen und Psychologen haben Bronswijks Online-Manifest unterzeichnet. Im echten Leben, auf der Demonstration begleiten sie weniger, und doch hatte sie beim Engagement für die Umwelt noch nie so viel Gesellschaft wie heute. Man muss in kein klimaschädliches Flugzeug steigen und von oben auf die Therapeutin herab blicken, damit sie wie ein Bakterium wirkt, das man kaum finden kann. Jeder wirkt an diesem Septemberfreitag winzig, weil alle zusammen so riesig sind. In Berlin, in Sachsen, in Deutschland, auf der Welt. Auf allen Kontinenten haben Menschen demonstriert. In Berlin beschließt parallel das Klimakabinett der Bundesregierung Maßnahmen, die dem Klima helfen sollen.
Einige Stunden zuvor. Gegen 7.30 Uhr beginnt die erste Demo in Berlin. Fahrradfahren für das Klima. Eher eine Noch- als eine Schon-Wach-Zeit in der Hauptstadt, wo Nächte gerne vor sich hin florieren. Auch ein Symptom von Überforderung mit der Welt, die hedonistische Lebensart der Menschen? Verdrängung funktioniere auch im kleinen Maß, sagt Therapeutin van Bronswijk. Wenn Menschen denken: „Was ich mache, ist nicht so schlimm. Was ist schon einmal fliegen gegen 50 Flüge eines Business-Manns?“
Der Business-Mann. Der reiche Unternehmer. Das Max-Muster-Bild des stereotypischen Klima-Schädlings. Eine For-Future-Bewegung kontert gegen das Klischee: „Entepreneurs for Future“ nennt eine Untergruppe sich. Unternehmer für die Zukunft. Um 11 Uhr treffen sie sich vor dem Finanzministerium in Berlin. "Hier wird entschieden, was mit unseren Steuergeldern passiert", heißt es von einem Redner. Viele Anzug-Männer sind gekommen. Manche vom Typ freakiger Start-Up-Forscher mit Glühbirne auf dem Hut, andere in klassisch-grauen Karos. "Gewinnmaximierung ist sowas von letztes Jahrtausend", steht auf dem Plakat eines bebrillten Rollkragen-Trägers in beigem Trenchcoat. Wirtschaft kann auch moralisch, so die Botschaft.

Dirk Jacubczick hat sich eine rote Krawatte umgelegt. Er arbeitet bei Confideon, einer Beratungsfirma für die Ver- und Entsorgung von Wasser. Strom und Wasserpreise müssten steigen, sagt er, um umweltschonender zu wirtschaften. "Politisch ist das schwer durchsetzbar, aber Strom muss wieder so teuer werden, dass es sich lohnt, Laub zu kehren, statt es mit einem Laubbläser zum Nachbarn zu pusten." Warum er gekommen ist? "Wir sind nicht der Nachwuchs, sondern die Wirtschaftsaktiven. Keine Utopisten, sondern aus dem Business."
Erste Business-Leute machen sich auf dem Weg zum Brandenburger Tor, über Berlins Straßen schallt immer wieder der Schülergesang: "Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft raubt." Auf ihren Plakaten steht "Opa, was ist Schnee?" Ein BMW-Fahrer Mitte 30 wartet am Ausgang einer Tiefgarage, während sie vorbeilaufen. Seine Augenbrauen ziehen sich grimmig zusammen, er schüttelt den Kopf. "Mal sehen, wie viele SUVs heute brennen", sagt ein Demonstrant belustigt. Viele Berliner Straßenkreuzungen blockieren Demonstranten heute. Was Kohlenstoff ausstößt, muss mit Attacken rechnen.
Es ist 11.55 Uhr. In Dresden beginnen beide Proteste. Fünf vor zwölf, Zeit, zu handeln. Vom Hauptbahnhof und vom Alaunpark aus laufen sie los, treffen sich später am Straßburger Platz. „Eigentlich hätten sie fünf nach zwölf beginnen müssen“, frotzelt Jenny Keck. „Nein, wir haben doch Hoffnung!“, entgegnet Cornelia Chrominski. Die beiden gehören zum Dresdner Ableger von „Parents for Future“. Im Frühjahr haben sie sich gegründet, die meisten Mitglieder haben Kinder oder Enkel. „Wir suchen noch nach mehr Menschen, die sich engagieren wollen“, sagt Chrominski. Eine schwarze Brille steckt in den roten Haaren der 46-Jährigen, frei nehmen muss die Freiberuflerin sich für die Demo nicht. „Aber wir haben alle möglichen Berufsgruppen dabei, auch eine Altenpflegerin“, beteuert sie. Früher, mit 16, seien Montage die Demonstrations-Zeit der gebürtigen Dresdnerin gewesen. Jetzt sind es Freitage. „Wenn man mit offenen Augen und offenem Herzen durch die Welt geht, merkt man, dass was Falsches passiert. So will ich im Alter nicht leben und so will ich die Welt auch nicht für meine Kinder hinterlassen.“
Zu Pegida-Gegendemos, sagt die Neustädter Linke Keck, sei sie nur ungern gegangen. "Diesen hasserfüllten Haufen betrunkener, alter Männer will ich meinem Enkel und mir nicht antun.“ Die Klimabewegung biete eine neue Chance des Engagements. Eine viel freundlichere Stimmung. „Das könnte ein guter Gegenpol zu Pegida werden. Er setzt denen was Stärkeres, Positives entgegen." Henning Schindler von "Parents for Future" hofft gar darauf, dass dieser Freitag "eine Initialzündung" werden könne, mit "hoffentlich 10.000 Menschen oder mehr". Schätzungen von SZ-Reportern zufolge beteiligen sich mindestens 7.000, von offizieller Seiten heißt es 14.000. Einige Betriebe stellten ihre Mitarbeiter frei. "Die Beteiligung so vieler erwachsener Demonstranten ist ein starkes Zeichen und zeigt, welche Bedeutung dem Problem mittlerweile von wachsenden Teilen der Gesellschaft beigemessen wird", sagt Marlon Araque, Schüler und Mitorganisator der Dresdner Demo.
Auch die Stadtverwaltung ermöglichte ihren Angestellten, für Klimaschutz zu demonstrieren. "Beschäftigte können selbstverständlich an den Veranstaltungen teilnehmen", postete das Rathaus auf Twitter. Andere mussten sich mit ihren Arbeitgebern auseinandersetzen, politischer Streik ist in Deutschland nicht per se erlaubt. Dresden gehört zu den zwölf Städten in Sachsen, in denen Protestkundgebungen stattgefunden haben.
In der Hauptstadt kann Clara Meyer das Ende der Demonstration nicht sehen. Das Brandenburger Tor kennt so viel Trubel sonst eher von Silvesterparty-Gästen, nicht von Baum- und Blumenfans. "Das ist ein unglaubliches Gefühl, richtig krass", schwärmt Meyer. Die 18-Jährige ist das Gesicht der Berliner Bewegung. Mit 100 Menschen hat sie die Demo organisiert.

Auf der Bühne diagnostiziert Charité-Arzt Eckart von Hirschhausen der Erde schweres Fieber. Wäre es die eigene Mutter, sagt er, läge sie auf der Intensivstation und würde Ärzten Panik bereiten. Das schafft allmählich auch die Fülle des Events, gerade kleinere Besucher können kaum einen Eisbärsprung weit gucken. "Wir haben unsere Freunde verloren, was machen wir denn jetzt?", fragt eine Vierergruppe. Ihre Freunde sind weg, die Mission bleibt klar: "Wir sind hier, um den Politikern zu zeigen, dass es so nicht weitergeht", sagt die 13-jährige Mavie. "Wenn wir viele sind, können wir die Leute darauf aufmerksam machen", ergänzt Josi, die am Nachmittag nach Sachsen, zur Oma in Weißwasser fahren wird. Mit dem Auto, außerhalb der Großstadt ist klimafreundliches Vorankommen schwerer. Finn und Kian, auch beide 13, machen das "für unsere Zukunft". Den Stoff, sagen sie, müssten sich nachholen. Demonstrieren darf von ihren beiden Gymnasien, wer vorher Bescheinigungen abgegeben hat.
Ein paar Meter weiter schwelgt ein Mann und schwärmt von der Jugend, der sonst meistens selbst im Fokus vieler Schwärmer steht. "Ich bin unheimlich stolz darauf, dass so viele Kinder hier sind", sagt Sänger Marius Müller-Westernhagen. "Sie besitzen noch diese wunderbare Naivität der Jugend, zu glauben, dass sie die Welt verändern können." Er erinnere sich an seine Jugend, zu Zeiten des Vietnam-Kriegs. "Was hier heute passiert, macht den Mächtigen Angst. Sie müssen gucken, was sich davon ermöglichen lässt", sagt der 70-Jährige. "Nur zu sagen, dass sie die Kinder toll finden, reicht nicht."

Dann kann Berlin es doch wieder nicht lassen. Ganz ohne Party geht es nicht. Fetisch for Future könnte die Gruppe eines Fetischklub-Besitzers heißen, der mit Freunden in Lack und Leder demonstrieren ist. Die Reggae- und Dancehall-Band Culcha Candela löst Redner auf der Bühne ab. Bässe wummern durch die Menge, die umstehenden Bäume versuchen, gelassen zu bleiben. Immerhin sind die Krawallschachteln ihre Befürworter. Alles hüpft, klatscht, Plakate wirbeln durch die Luft.
An einer anderen Ecke haben Katharina van Bronswijk und eine Kollegin aus Leipzig sich ein Stück näher an die Bühne heran gekämpft. Ihre Psychologen-Versammlung dürfen sie für die Demonstration unterbrechen. "Ich bin überwältigt davon, wie viele heute hier sind. Es gibt Kraft, zu wissen, wie viele dahinter stehen", sagt sie. Dass "so viele gebildete Menschen das Thema nicht ernst nehmen", so Kollegin Juliane Sim, könne sie nicht nachvollziehen. Die Therapeutin wiegt einen Säugling auf ihrem Arm. Mira, eins von drei Kindern. "Ich will, dass es ihnen auch in Zukunft gut geht." Noch sind sie, diese vielen Menschen, Privilegierte, die demonstrieren, weil sie Schlimmes ahnen können. Was passiert, wenn es wirklich einsetzt? Viele könnten ihre Heimat verlassen müssen, das fördert Depressionen, erzeugt Spannungen in den Ländern, wo sie ankommen. „Faschistoide Tendenzen werden steigen, Depressionen und Angststörungen auch“, sagt van Bronswijk. „Das merke ich als Therapeutin schon jetzt.“

Angst und Euphorie, sie wechseln sich ab an diesem Tag. Die Gruppe "Extinction Rebellion", die zu zivilem Ungehorsam aufruft, beerdigt einen Baum, schleicht in roten Masken-Kostümen über das Gelände. Für Blut soll es stehen. Zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor sammeln sich nachmittags Klubfans zu einer Tanzdemonstration: "No future, no dancefloor". Wenn es keine Zukunft gibt, wie soll man dann noch tanzen? Auch eine Motivation, um Klimaschutz zu fordern. Am Ende passen Tragik und Euphorie womöglich doch ganz gut zusammen. Ganz im Gegensatz zu Hauptstadtverkehr und Großdemonstrationen. Autos und Ampeln bleiben dank Blockaden noch eine ganze Weile arbeitslos, an diesem Großkampftag. 270.000 Menschen haben den Veranstaltern zufolge in Berlin demonstriert. Viel mehr als erwartet.