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Konfektionsgröße: Riese

In zwei Wochen startet der Bautzener Theatersommer. In der Schneiderei hat das Abenteuer schon begonnen.

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© Uwe Soeder

Von Miriam Schönbach

Eine größere Schneiderpuppe muss her für die Robe der Königin von Brobdingnag. Schließlich handelt es sich um eine Riesin. Riesig ist deshalb auch der Hut, der neben der herrschaftlichen Garderobe auf dem Arbeitstisch der Theaterschneiderei liegt. Die Schuhe fallen mit Größe 90 ebenfalls gigantisch aus. Die 90 steht für 90 Zentimeter Länge. Genau das richtige Maß für die Herrscherin des Riesenreiches. Brobdingnag ist eines der Länder, die der Seefahrer Gulliver auf seinen Reisen ansteuert. Ab dem 3. Juli wird seine Geschichte beim Bautzener Theatersommer erzählt.

In der Schneiderei des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters hat das Abenteuer unterdessen schon begonnen. „Die großen Kostüme sind eine echte Herausforderung“, sagt Bärbel Meyering. Vor allem auf die richtigen Proportionen muss die Herrengewandmeisterin achten. Prüfend betrachtet sie das maßgeschneiderte Kostüm der Königin – und ist zufrieden. Im Hintergrund surren leise die Nähmaschinen.

Das Gewand des Riesen-Königs besteht dagegen noch aus Einzelteilen. Manuela Fulk spult den Faden auf. Geschwind näht sie am Bund des farbenprächtigen Rockteils ein Band fest. Die Herrenmaßschneiderin kappt den Faden und geht zur Bügelstation. „Die Falten müssen Halt haben“, sagt sie und drückt das Bügeleisen auf den Stoff. Es duftet nach frischer Wäsche. Die Wärme hinterlässt harte Kanten.

Gleich geht es zurück an den Schneidertisch. Dort liegt schon das Oberteil für das Wams. Gut eine Woche arbeitet Manuela Fulk an der kompletten Ausstattung seiner königlichen Majestät. Aus einer Metalldose fingert sie die letzten Stecknadeln mit bunten Köpfen. „Davon haben wir immer zu wenig. Erst vergangene Woche bekamen wir 1 000 Stück neu“, sagt sie lachend und verbindet geschickt die beiden Kostümteile. Seit 25 Jahren arbeitet die Bautzenerin in der Schneiderei des Bautzener Theaters. Damit erfüllt sie sich ihren Traumberuf. Gleich nach der Lehre heuert sie 1989 dort an und kleidet seit dieser Zeit hauptsächlich die Schauspieler ein. Die derben Männerstoffe mag die Schneiderin lieber als die oft dünnen und zarten Materialien für die Kostüme der Frauen.

Nach dem Zusammenstecken des Obergewands für den König steuert sie wieder ihre Nähmaschine an. Evelin Zschoch kommt nun an den Arbeitstisch. Die 58-Jährige ist die dienstälteste Schneiderin von den acht Kolleginnen. Vor 40 Jahren begann sie als einziger Lehrling ihre Ausbildung, die Theater-Werkstätten befanden sich damals noch am Lauengraben. Für ihre erste Inszenierung „Auf Glas gemalt“ näht sie Trachtenhosen. Ihr erster Schneiderversuch liegt da schon ein paar Jahre zurück. In der neunten Klasse versuchte sie sich an einem Minirock. Anfang der 70er Jahre war das der neueste Schrei. Ein Minirock steht jetzt nicht auf dem Plan. Stattdessen setzt Evelin Zschoch die Schere in einen weißen Stoff und schneidet eine handbreite Bahn ab. „Das wird ein Kragen“, sagt sie und sitzt schon wieder an der Nähmaschine. Mehr als 140 Kostüme entstehen in diesem Jahr für den Theatersommer. Im Durchschnitt drei- bis viermal ziehen sich die 40 Schauspieler und Puppenspieler pro Vorstellung um. Gut 300 Meter Stoff sind deshalb schon vernäht. Etwas mehr als in den vergangenen Jahren, schließlich dürfen die Hosen der Riesen ja nicht zu kurz sein.

Die fertigen Kostüme kommen gebügelt auf eine riesige Kleiderstange. Darunter stehen Kisten mit Schuhen und Hüten. Auf einem Karton ist zu lesen: Hosen für Pferde. Die behuften Schuhe für die Vierbeiner liegen gleich daneben. „Die Schneiderei ist für die Kleidung von Kopf bis Fuß zuständig. Natürlich unterstützen sich die Abteilungen gegenseitig“, sagt Damengewandmeisterin Sandra Viola Gellert. Sie legt frisch gebügelten, grauen Stoff mehrfach aufeinander und befestigt mit langen Stecknadeln einen Schnitt auf dem groben Material. Zehn Stück dieser Beutelhosen müssen entstehen. Mit einer Elektroschere bahnt sie sich ihren Weg durch die übereinander liegenden Lagen und macht so gleich mehrere Zuschnitte zugleich.

Das spart Zeit. Denn die wird immer knapp drei Wochen vor der Premiere des Sommerstücks. Deshalb holt sich die Schneiderwerkstatt Unterstützung für die Groß-Produktion, zum Beispiel bei Marianne Kopke. Die 67-Jährige könnte in diesen Tagen auch ihren Garten genießen. Doch viel lieber sitzt die gelernte Damenmaßschneiderin an der Nähmaschine. Die Gnaschwitzerin leitete bis 1989 die Nähstube im Sprengstoffwerk ihres Heimatortes. Dort nähte sie Kleider, Hosen und Blusen für die Mitarbeiter. Seit der Wende kommt sie immer dann ins Theater, wenn Not am Mann ist. Vorsichtig drapiert Marianne Kopke mit Nadel und Faden eine Feder an einem schwarzen Hut. Kaum ist sie mit dieser Tätigkeit fertig, greift sie schon nach einem gelben, durchsichtigen Stoff.

Auch ihre Kolleginnen sind wie in einem Bienenstock immer in Bewegung. „Zu Beginn einer jeden Produktion besprechen wir uns mit dem Kostümbildner. Was ist umsetzbar? Welche Teile können wir aus dem Fundus verwenden? Was muss neu entstehen? Danach weiß jeder, was zu machen ist“, sagt Bärbel Meyering und nimmt einen Schneiderwinkel in die Hand. Mit dessen Hilfe und mit einem Bleistift skizziert sie auf weißem, stabilen Einlagenstoff zwei Vierecke. Zwei Gewichte hindern das Material am Zusammenrollen. Dann schneidet sie die Vorlage für den Hut eines Jahrmarktbesuchers aus. Die Größe der Kopfbedeckung verrät es: Auch er ist ein Riese aus dem Lande Brobdingnag.