Von Alexander Kempf
Reinhard Keller braucht nur einen kleinen Taschenrechner, um die Auswirkungen der großen Politik zu erklären. Der Vorstand der Agrar-Genossenschaft See tippt die Zahl 1880 in den Rechner. So viele Hektar hat sein Betrieb. Die Zahl multipliziert er mit 50. So viel Euro soll er künftig weniger pro Hektar erhalten. Ergibt unterm Strich? „Das sind 94 000 Euro, die man uns einfach wegnimmt“, sagt der Landwirt, „hier geht es richtig um Geld.“ Wenn die Europäische Union die Regeln ändert, verändert sie sein Leben.

Reinhard Keller mag Regeln. Er findet sie wichtig. Doch nicht alle erscheinen ihm richtig. Die Chefin der Milchproduktion in See verbringe mittlerweile sechs von acht Stunden am Tag vor dem Computer, erzählt er. Die Dokumentation frisst mehr Zeit als die Kühe. „Das kann man nicht nebenbei machen“, sagt der 61-Jährige. Denn wenn etwas fehlt, könne das für den Betrieb schnell sehr teuer werden. Kontrolle müsse sein, räumt der Landwirt ein. Aber manchmal vermisst er das Augenmaß.
Die Überwachung der Landwirte erfolge mittlerweile aus dem „Kosmos“, erzählt Reinhard Keller. Mit Hilfe von Satelliten werde kontrolliert, ob die Angaben der Bauern auch korrekt sind. Gibt es Abweichungen, etwa weil ein Weg auf dem Feld nicht angegeben worden ist, kriegt die Agrar-Genossenschaft See Besuch. „Bei uns wird alles kontrolliert“, sagt der Landwirt. Er fühlt sich fremdbestimmt.
Am Sonntag ist Europawahl. Dann kann Reinhard Keller mal selbst bestimmen. Zumindest wem er seine Stimme gibt. Dann darf der Landwirt Dinge beeinflussen. Doch er winkt ab. Brüssel sei schließlich weit weg. Einfluss nehmen? Der Wahlzettel ist für ihn nur bedingt eine Hilfe. Reinhard Keller breitet die Arme aus, um zu verdeutlichen, wie lang die Liste ist. „Himmel, ein Bär“, sagt er, „Namen hörste ja keine!“
Stattdessen hört er viele Dinge, die in Brüssel im Gespräch sind. Beispielsweise könnten Insektizide bald ganz verboten werden. „Wer denkt sich so etwas aus? Dann brauchen wir keinen Raps mehr anbauen“, sagt Reinhard Keller. Regeln könnten auch dazu führen, dass der Landwirt handlungsunfähig wird. Der Bauer aus See versteht sich als Unternehmer. Ihm ist an Wachstum gelegen. Die EU aber stärke seiner Meinung nach „Museumsbetriebe“.
Korrekturen gibt es immer wieder, erklärt Peter Jahr, Abgeordneter des Europäischen Parlaments, den Landwirten kürzlich während eines Vortrags in Diehsa. Mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Zu den Errungenschaften zählt der CDU-Politiker die großzügige Förderung für Biogasanlagen in der Vergangenheit. Die habe den Landwirten ein zusätzliches Standbein verschafft. Auch die Agrar-Genossenschaft See hat investiert. So können Reinhard Keller und seine Kollegen die Gülle der 450 Rinder in Kosel zweitverwerten.
Andernorts werden Lebensmittel hingegen in Sprit umgewandelt. Es sei gar nicht so einfach, Gesetze zu verfassen, erklärt Peter Jahr den Besuchern in Diehsa. Denn was in der Theorie richtig und wichtig erscheint, kann sich in der Praxis schnell als problematisch erweisen. Gesetzeslücken und Grauzonen bergen Gefahren, aber eben auch Gestaltungsspielraum. Dass es nicht nur in Brüssel Bürokratie gibt, räumt auch Reinhard Keller ein.
Gerade in Sachsen würden Regelungen der Europäischen Union „schärfer“ ausgelegt als etwa im Nachbarland Brandenburg. So sei eine Wettbewerbsgleichheit untereinander nicht gegeben. Überhaupt ärgert sich der Landwirt über die Kleinstaaterei in Deutschland. In Thüringen etwa könnten Bauern für die Bewässerung der Felder kostenlos Wasser aus Gewässern entnehmen, erzählt er. In Sachsen sei dafür ein Obolus nötig. „So was darf es nicht geben“, sagt Reinhard Keller. Wenn er über die Bildungspolitik spricht, schüttelt er mit dem Kopf. Warum leisten sich die 16 Bundesländer hierzulande 16 unterschiedliche Schulsysteme? Er versteht es nicht.
Politik ist wohl tatsächlich ein weites Feld. Insbesondere für einen Landwirt. Doch der muss dieses dringend bestellen. „Ohne Förderung würde unser Betrieb gar nicht überleben können“, sagt Reinhard Keller. Er ist abhängig von Brüssel. Wer dort gehört werden will, der könne sich aber nicht allein auf seinen Stimmzettel bei der Europawahl verlassen. Einfluss nehmen? „Das geht nur über Organisationen und Verbände“, sagt Reinhard Keller. Trotzdem tritt er am Sonntag an die Wahlurne. Aus Protest? Nein, aus Prinzip. „Ich gehe immer wählen.“