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Kunsthonig als ein Versöhnungshäppchen

Am 17. Juni 1953 erklärten sich viele Görlitzer Werktätige mit den Berliner Arbeitern solidarisch, über deren Streik sie vor allem durch den Rias informiert waren. Im Laufe des Vormittags zogen die Waggonbauer,...

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Am 17. Juni 1953 erklärten sich viele Görlitzer Werktätige mit den Berliner Arbeitern solidarisch, über deren Streik sie vor allem durch den Rias informiert waren. Im Laufe des Vormittags zogen die Waggonbauer, dann auch die Maschinenbauer von Betrieb zu Betrieb, um deren Belegschaften zum Anschluss zu gewinnen. Während sich viele Arbeiter den Zügen anschlossen, gab es auch gewaltsames Eindringen und Maschinenabschalten durch Demonstranten. Menschen gingen auf die Straße, teils fordernd, teils aus Neugierde. Je nach Einstellung schildern im Nachhinein Zeitzeugen unterschiedliche Stimmungen: Während viele von diszipliniert verlaufenden Demos sprechen, erinnern andere an Ausschreitungen, Plünderungen und Gewalt. Auf dem Leninplatz (heute wieder Obermarkt) beginnt mittags eine Kundgebung, die der von Demonstranten besetzte Stadtfunk überträgt. Letzteres erleichtert der Staatssicherheit später auch die Ermittlungen, denn parallel zur Übertragung liefen Tonbänder mit. Eröffnet wurde die Kundgebung von einem Lowa-Schlosser namens Hermann Gierich und einem Architekten Cammentz. Oberbürgermeister Ehrlich wurde für abgesetzt erklärt, danach aber seltsamerweise beauftragt, Polizeiaktionen am Marienplatz zu unterbinden. Der Arbeiter Max Latt aus dem VEB Sachsendruck hielt eine flammende Rede mit Betonung der Sozialdemokratie. Am frühen Nachmittag stürmten Demonstranten die Kreisleitungen von SED und FDJ, das Pionierhaus, Dienststellen von MfS, DSF und Gerichten, das Arbeitsamt, das Rathaus, beide Gefängnisse. Zeitweise wurden auch Bahnhof, HO-Warenhaus und Sächsische Zeitung besetzt. 416 Häftlinge und 52 Untersuchungshäftlinge wurden unabhängig politischer oder krimineller Haftgründe befreit, waren am 19. Juni allerdings zum großen Teil wieder hinter Gitter. Während sich viele Funktionäre versteckten, bewiesen OB Ehrlich und SED-Kreissekretär Weichhold Mut und suchten den Dialog. Carl Weichhold wurde später als Geisel genommen und als eine Art Schutzschild bei der Erstürmung der Stasi-Dienststelle benutzt. Am MfS-Objekt Thälmannstraße (heute James-von-Moltke-Straße) kam es erstmals zu Schüssen. Hier erschienen auch erstmals sowjetische Soldaten, die allerdings zunächst noch nicht eingriffen. Eine Stunde später marschierten allerdings 20 Rotarmisten ein, was eine Ursache hatte: Um 14 Uhr war über Görlitz der Ausnahmezustand der sowjetischen Besatzungsmacht verhängt worden. Erste militärische Formationen trafen gegen 16 Uhr ein. Die Besetzung des Rathauses wurde von einer Einheit der KVP-Bereitschaft Löbau beendet. Diese Truppen kamen allerdings mindestens zwei Stunden verspätet an, weil es Kompetenzgerangel gegeben hatte. Die KVP-Bereitschaft unterstand direkt Berlin und akzeptierte einen Marschbefehl nur von dort. Sowjetische Truppen zogen gegen 18 Uhr durch die Innenstadt, allen voran zehn Panzer vom Typ T34. Es gab Warnschüsse über die Köpfe von Demonstranten, die sich angesichts dieses Aufgebotes schnell verstreuten. Gegen 20.20 Uhr meldete der Einsatzstab der Volkspolizei eine „Beruhigung der Lage“. Sicherheitshalber setzte die Rote Armee abends noch ihre komplette Bautzener Division in Marsch, weil man wohl um die Grenzsicherheit bangte. Am 18. Juni war es ruhig in der Stadt Görlitz und im Landkreis, dennoch befanden sich noch viele Arbeiter im Streik. Vor und in mehreren Betrieben patrouillierten Sowjetsoldaten, und es gab Drohungen, Leute zu erschießen, die die Arbeit nicht aufnähmen. Am 19. Juni meldeten alle Betriebe volle Arbeitsaufnahme.

Noch am 19. Juni erschien ein Sekretär des Rates des Bezirkes und ließ auf die Peitsche das Zuckerbrot folgen: Görlitz erhielt eine Sonderzuteilung von 13 Tonnen Kunsthonig, von 10,6 Tonnen Haferflocken, von sechs Tonnen Mehl, und von zehn Tonnen Grieß . . .