SZ +
Merken

Kurierfahrt ins Kittchen

Pirnas pensionierter Kripochef und seine Fälle. Heute: Das angezapfte Telefon verrät einen Graupaer Drogendealer.

Teilen
Folgen

Von Jörg Stock

Fahl und feucht graut der Morgen über dem Grenzland zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande. Es ist der 7. Oktober 1999. Der Kriminalhauptkommissar Jürgen Berger aus Pirna denkt bei diesem Datum unwillkürlich an den Geburtstag der DDR. Es wäre der 50. Es hätte Orden gegeben, und Prämien, und Beförderungen. Dem Mann, auf den Jürgen Berger wartet, hier, sechshundert Kilometer entfernt von daheim, ist der Tag höchstwahrscheinlich schnurz. Noch. Berger wird dafür sorgen, dass er ihn so schnell nicht mehr vergisst.

Dealerwagen im Fokus: Die Beschatter von Dietmar H. fotografierten seinen weißen Opel Vectra unbemerkt an einer Autobahnraststätte. Auf dem Rückweg von Holland wurde der Mann aus Pirna-Graupa mit 18 Kilo Rauschgift (kl. Bild Mitte) im Kofferraum gestellt.
Dealerwagen im Fokus: Die Beschatter von Dietmar H. fotografierten seinen weißen Opel Vectra unbemerkt an einer Autobahnraststätte. Auf dem Rückweg von Holland wurde der Mann aus Pirna-Graupa mit 18 Kilo Rauschgift (kl. Bild Mitte) im Kofferraum gestellt.

Ein Jahr zuvor: Freitagnachmittag, Kriminalpolizeiinspektion Pirna, Königsteiner Straße. Bei Jürgen Berger, Sachbearbeiter im Drogenkommissariat, dudelt das Telefon. Am anderen Ende ist ein Unbekannter. Der meldet, in Pirna lebe ein Drogendealer, der Rauschgift aus Holland nach der Schweiz schaffe. Er soll Dietmar H. heißen. Der Name sagt dem Hauptkommissar Berger nichts. Doch der Anrufer klingt glaubwürdig. Davon abgesehen ist es Bergers Pflicht, die Sache zu prüfen. In Absprache mit der Staatsanwaltschaft beginnt die Aufklärung der Person Dietmar H.

Dietmar H., 39, verheiratet, drei Kinder, wohnt unauffällig in einem Haus in Graupa. Er ist kein Hiesiger. Geboren wurde er in einer Westerwald-Gemeinde im Nordzipfel von Rheinland-Pfalz. Zur Wendezeit kam er nach Ostdeutschland und versuchte sich als Unternehmer. Er handelte mit Bau-Elementen für Fassaden und Dächer, und mit Fenstern, was aber nicht gut lief. Interessant: H. ist einschlägig vorbestraft. Er hat gegen das Betäubungsmittelgesetz verstoßen und wurde schon zweimal verurteilt, zuletzt zu vier Jahren Haft.

Durch die Recherchen und die Tipps des anonymen Informanten erhärtet sich der Verdacht, H. könnte nach seinem erfolglosen Unternehmertum ins Drogengeschäft eingestiegen sein. Doch es fehlen Beweise. So beantragt die Staatsanwaltschaft eine Überwachung von H.s Telefon. Bei Ermittlungen im Drogenmilieu ist das nicht unüblich. Allerdings müssen die Verdachtsmomente stark genug sein. Das sind sie, findet der Ermittlungsrichter, und H.s Telefonversorger installiert die heimliche Umleitung zur Pirnaer Polizei.

Von nun an hören die Ermittler mit. Sie erfahren, mit wem H. redet und worüber. Sie merken, dass Dietmar H. tatsächlich Rauschgift aus Holland in die Schweiz kutschiert. Die Observation H.s bestätigt das. Und eines Tages, als wieder eine Kurierfahrt beginnt, heften sich die Polizisten an H.s Fersen. Für den Haftbefehl würde das, was sie jetzt wissen, zwar schon reichen. Aber sie wollen, nach einem Jahr mühsamer Ermittlungen, den Sachbeweis, wollen Dietmar H. auf frischer Tat ertappen.

Der Verdächtige fährt einen weißen Opel Vectra. Mit ihm im Wagen sitzt ein Komplize, ein gewisser Thomas K. aus Dresden. Die beiden steuern Richtung Ruhrpott und dann der niederländischen Grenze entgegen. Wie folgt man einem Auto unauffällig über eine so große Distanz? Jedenfalls nicht mit ein und dem selben Wagen. Das würden die Verfolgten schnell merken. Man braucht einen großen Fuhrpark zum Wechseln und Experten, die sich mit Fahrzeugbeschattung auskennen. Beides hat die Pirnaer Kripo nicht zur Hand. Das Mobile Einsatzkommando (MEK) des Landeskriminalamts Sachsen übernimmt den Fall. Später stoßen weitere MEKs aus Norddeutschland dazu.

Die Polizisten folgen Dietmar H. unerkannt. Doch als der über die offene Grenze rauscht, müssen sie stoppen. Ende des Zuständigkeitsbereichs. Während der Fahrt hatte H. nicht telefoniert. Hauptkommissar Jürgen Berger und seine Leute wissen weder, wie lange er im Nachbarland bleibt, noch, welchen Grenzübergang er für den Rückweg nimmt. Zwei Übergänge werden gleichzeitig bewacht. Nun heißt es warten und hoffen, dass H. bald wieder auftaucht.

Die Ermittler haben Glück. Schon am nächsten Morgen, dem Morgen des 7. Oktober, erspähen sie den weiße Opel Vectra erneut, hängen sich an ihn dran. Er fährt auf der Bundesautobahn 57, nähert sich Krefeld. Einsatzleiter Jürgen Berger hat angewiesen, die Insassen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit festzunehmen. Selber stoppen wollen die Polizisten den Wagen nicht. Sie wollen keine Verfolgungsjagd riskieren, die Unbeteiligte gefährden könnte. Sie wissen, dass H. Drogen konsumiert und als gewalttätig gilt. Das macht ihn unberechenbar. Möglicherweise ist er sogar bewaffnet.

Kurz hinter Krefeld geht der Blinker des Opels an. Er biegt auf die Raststätte Geismühle-West ab, benannt nach einer niedlichen Holländerwindmühle, die ganz in der Nähe ihre Flügel spreizt. H. und sein Komplize betreten ahnungslos die Raststätte. Jetzt kommt das Kommando: Zugriff! Die völlig Verdutzten werden überrumpelt, mit Handschellen versehen und in die Herrentoilette verfrachtet, die für andere Bedürfnisse ab sofort gesperrt ist. Jürgen Berger hat das Bild, das sich ihm bietet, noch lebhaft vor Augen. „Die beiden saßen da, gut verpackt, jeder in einer Ecke.“

Dietmar H. ist von Natur aus ein großer, kräftiger Mensch. Auf Jürgen Berger macht er in diesem Augenblick einen heruntergekommenen Eindruck. Typisch für Drogenkonsumenten, denkt er. Nun wird H.s Auto untersucht. Ist die fatale Fracht an Bord? Der Kofferraum sieht ganz gewöhnlich aus. Unter dem Filz der Ladefläche jedoch fällt eine Naht frischen Kitts auf, die sich um die Reserveradmulde zieht. Sie wird aufgebrochen, und ein Hohlraum erscheint, vollgestopft mit braunen Päckchen. Es ist der gesuchte Stoff. In den 36 Paketen stecken dreizehn Kilo Marihuana und fünf Kilo Haschisch. Marktwert: rund 180 000 D-Mark. Daheim in Graupa durchsuchen Kripoleute zeitgleich H.s Haus. Sie finden weitere Drogen, Drogenutensilien und eine Pistole russischer Bauart mit Schalldämpfer.

Am 14. September 2000 verurteilt das Landgericht in Dresden Dietmar H. wegen bandenmäßigen Handels mit Betäubungsmitteln und diverser weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten. So weit, so klar. Doch dann gibt es ein interessantes Nachspiel. Im Jahr 2002 meldet sich die Mordkommission Koblenz bei Hauptkommissar Jürgen Berger in Pirna. Sie ist an den Ermittlungsergebnissen im Fall Dietmar H. interessiert.

Die Koblenzer Polizisten haben im Westerwald ein Skelett gefunden, das einmal der Kleindealer Holger M. war. Dietmar H. soll die Liquidierung M.s veranlasst haben, weil dieser die Drogengeschäfte einer guten Freundin H.s der Polizei gesteckt hatte. Nun fassen die Mühlen der Justiz erneut nach Dietmar H. Er wird der Freiheitsberaubung und Körperverletzung mit Todesfolge für schuldig erklärt. Die große Strafkammer des Landgerichts in Koblenz brummt ihm – eingeschlossen die Strafe aus Dresden – 13 Jahre und drei Monate Gefängnis auf. Trotzdem findet H. Gnade vor dem Gesetz. Im Oktober 2008 darf er vorzeitig in die Freiheit.

Lesen Sie kommenden Sonnabend: Wilde Zeit. Die Büchsenöffnerbande terrorisiert die Sächsische Schweiz.