Von Gunnar Saft
Es war fast wie früher. Mehrere Kamerateams rangelten um die besten Plätze, und von den Pressestühlen blieb keiner leer. Die Aufmerksamkeit der Medienvertreter, die sich gestern im sächsischen Sozialministerium versammelt hatten, galt dem älteren Herrn am Tischende: Kurt Biedenkopf, Ex-Ministerpräsident von Sachsen und heute einer der drei Mitglieder des Ombudsrates, der im Auftrag der Bundesregierung die Sozialreform Hartz IV beratend begleitet.
Ein Thema, das Biedenkopf liegt wie kaum ein anderes. Geht es dabei doch um die ganz großen Probleme wie Generationengerechtigkeit und Zukunftssicherung sowie um den unumstößlichen Fakt, dass nur verteilt werden kann, was auch vorhanden ist. Die Wirklichkeit muss man wahrnehmen wie sie ist, lautete früher einer von Biedenkopfs Lieblingssätzen. Zu Hartz IV und der damit verbundenen Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe wandelt er ihn nur leicht ab: „Jetzt erfolgt die Aufarbeitung einer Wirklichkeit, die wir lange Zeit einfach nicht wahrgenommen haben.“ Das sollte heißen, im Kern ist die Reform richtig, im Detail muss dagegen noch korrigiert werden. Für Biedenkopf gehört zum Beispiel der Betrag von 14 Euro, der ostdeutschen Hartz IV-Empfängern gegenüber Empfängern im Westen fehlt, auf den Prüfstand. „Der Unterschied sorgt unter den Betroffenen für erhebliche Irritationen, da ihn die Bundesregierung bis heute nicht plausibel erklären kann.“ Immerhin gebe es in Deutschland auch ein deutliches Nord-Süd-Gefälle bei den Lebenshaltungskosten, was die Bundesregierung jedoch ignoriert. Logisch, so Biedenkopf, sei das alles nicht. Nun will er die Sache im April im Ombudsrat zur Sprache bringen.
Exakte Prognose, wenig Zeit
Handlungsbedarf sieht der energisch agierende Ombudsmann auch bei den so genannten Bedarfsgemeinschaften, wie die deutsche Bürokratie Hartz IV-Empfänger kategorisiert, die in eheähnlichen Verhältnissen leben. Weil dabei oft die finanziellen Ansprüche eines Partners verfallen, sei damit zu rechnen, dass sich viele Gemeinschaften künftig formal auflösen. Im Ergebnis drohe ein rascher Anstieg der Bezieher des Arbeitslosengelds II, warnte Biedenkopf.
Dass er damit offenkundig richtig liegt, erfuhr er jedoch noch nicht. So übersteigt die aktuelle Zahl der sächsischen Hartz IV-Empfänger mit 346 000 tatsächlich schon deutlich die einstige Prognose von 278 000. Doch Sozialministerin Helma Orosz (CDU) blieb gestern nur wenig Zeit und Aufmerksamkeit. Sie nutzte beides, um vor der Presse wenigstens noch besseres Datenmaterial von der Bundesagentur für Arbeit anzumahnen. Dann war wieder Biedenkopf gefragt. Der erklärte noch, er erwarte, dass die Kommunen die Betreuung der Bezieher des Arbeitslosengeldes II künftig komplett in eigene Regie nehmen werden und dass zudem mit keiner neuen Protestwelle gegen die Sozialreform zu rechnen sei. Dann musste er sich vorfristig verabschieden. Seine Termine, so entschuldigte sich der 75-Jährige, ließen ihm keine andere Wahl.