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Lasst die Flüsse atmen!

Kommt das Wasser, wird Solidarität großgeschrieben und alle rücken näher. Auch wenn man dem nächsten Hochwasser vorbeugen will, braucht man sie.

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Von Jörg Naumann

Die Sonne scheint wieder warm vom Himmel, die meisten sind wieder mal davongekommen, die mit wohligem Schaudern von Ferne zuschauen konnten. Viele halfen beim Sandsäckebefüllen und Verteilen, die anderen versorgten die Helfer mit Essen und Trinken. Bloß gut, dass sich so viele Menschen als Nachbarn erweisen. Aber dann geht alles wieder seine alten Bahnen? Bis zum nächsten Mal? Wird das dann wieder gutgehen? Wir wissen, dass die Spitzen der Jahrhunderthochwässer immer dichter beieinander liegen und dass wir uns auf nichts herausreden können: Wir haben die Himmelsgewalten und die Fluten nicht unter Kontrolle und schon gar nicht unter unserer Gewalt.

Es nützt uns nichts, die Flutmauern immer höher zu ziehen. Wer weiß, wo es das nächste Mal aufschlägt? Es nützt uns wenig, die Sandsäcke eins um das andere Mal zu befüllen und zu verteilen. Wer weiß, welche Dammkrone das nächste Mal unter dem Druck der Wassermassen zu Brei wird und nachgibt?

Enger und enger werden die Betten der Flüsse, und das Wasser schießt hindurch durch unsere Städte wie bei einer Toilettenspülung. Möglichst schnell wollen wir die Wasser wieder loswerden, und schon sammelt es sich in der Stadt zu unseren Füßen. Es hat was vom St. Floriansprinzip: „St. Florian, St. Florian, verschon mein Haus, zünd’s andre an!“

Es geht um etwas ganz anderes – ich möchte es langfristige Solidarität nennen: Da halten wir das Unglück der Wasser länger aus: Die Wasser dürfen breitlaufen, dort wo es dem Land weniger schadet, in die Polder, die großmütige Bauern dafür hergeben, weil sie großzügig dafür entschädigt werden. Der Fluss wird freigelassen und darf wieder mäandrieren, wie er es früher schon immer tat. Das Wasser fließt wieder ruhiger, die Scheitelwelle ist nicht so hoch und so schnell, weil der Druck auf die Dämme viel geringer ist – man hat sie weit nach außen gerückt und lässt dem Fluss wieder Raum, sich zu verströmen. Zwar dauert alles viel länger, bis die Polder wieder leerlaufen, aber die Spitzen sind weniger hoch und hektisch – die Menschen leben ruhiger, auch die, die keine staatlichen Fluthilfen bekommen und erst recht keine Versicherungen mehr abschließen können. Sie müssen es nicht mehr und haben doch keine Angst.

Denn wir werden uns damit einrichten müssen, dass das Wasser zurückkommt. So wie damals, wird man sagen, und sich zurücklehnen und warten, bis alles vorbei ist. Denn wenn der Fluss wieder breit in seinem Rhythmus atmen darf, wenn wir langfristig solidarisch sind und dem Strom genügend Platz einräumen, dann kommt er auch durch die Städte, ohne sie zu überfluten. Utopisch? Es bedarf lediglich internationaler langfristiger Solidarität, mit dem Strom zu leben.