Von Ute Meckbach
Nadine, 22, ehemalige Mitschülerin von Andreas, Zeugin des Mordes
Als Mitte April im Radio das Massaker von Blacksburg ausgewertet wird, räumt Nadine (Name geändert) in ihrer Dresdner Wohngemeinschaft den Frühstückstisch ab. Ihre Hände zittern. Im Radio fragt jemand, wie so etwas an einer gut bewachten Uni passieren konnte. Nadine kennt solche Statements: „Man kann so was nicht verhindern!“ Sie weiß das. Sie hat am 9. November 1999 zugesehen, wie ihr Mitschüler Andreas einen Menschen erstochen hat.
Nadine war 15 und ging am Franziskaneum in die Klasse 9/1. Es war ein Dienstag, kurz nach acht. Die Geschichtsstunde hatte gerade begonnen, da wurde die Tür aufgerissen. Eine vermummte Person stürmte in den Raum, ging mit zwei Messern auf die 44-jährige Lehrerin Sigrun Leuteritz los, stach 21-mal zu. Die Verletzte schrie, wehrte sich, schleppte sich auf den Gang, während der mit den Messern auf ihrem Rücken hing. Nadine saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl. „Das Schlimme war, dass wir alles genau gesehen haben“, sagt sie. „Um uns herum gab es nichts, nur das da vorn.“ Erst als es vorbei war, begriff Nadine, dass vor ihren Augen gerade ein Mord verübt worden war, und dass der Mörder die Sachen von Andreas trug.
Nadine ist jetzt 22, studiert Französisch, möchte ins Ausland gehen, irgendwann. „Ich habe mein Leben wieder ganz gut im Griff“, sagt sie. Sie hat einen Freund, ist im Studium schnell vorangekommen. Und doch ist der Mord wie ein Film im Gedächtnis gespeichert und startet von selbst: Beim Anblick von Küchenmessern. Bei jeder Tür, die aufgerissen wird.
Zwei Jahre lang wurde Nadine von einem Psychologen betreut. Sie lernte, mit den Symptomen zu leben. Die Gründe für das Verbrechen kennt sie bis heute nicht. Sigrun Leuteritz sei eine strenge aber faire Lehrerin gewesen. Und Andreas ein netter Kumpel, Nadine mochte ihn. „Er war ein ganz Lieber“, sagt sie. „Er war sehr emotional. Man sah ihm an, wenn er schlecht gelaunt war, aber er redete nicht darüber. Dass er Frau Leuteritz hasste, wusste ich nicht.“ Die Gerichtsverhandlung war nicht öffentlich. Die Schüler erfuhren nur, dass Andreas aufgrund einer psychischen Störung nicht zur Höchststrafe von zehn Jahren, sondern nur zu siebeneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Sie wollten mehr wissen, schickten ihm Briefe. Er schrieb zurück, dass sie ihn in Ruhe lassen sollen, weil böse Menschen keine Briefe verdienten. „Eine Erklärung für das Ganze hatte er selber nicht.“
Nadine steckt noch heute in dem Zwiespalt, dass Andreas für sie nicht nur der Mörder, sondern auch der Schulfreund ist. Sie hat Angst vor einer Begegnung, weil sie weiß, wozu er fähig ist, wünscht ihn auf eine einsame Insel. Sie hat eine Höhen- und Platzangst entwickelt. Fahrstuhl fahren kann sie nicht, aus vollen Bussen steigt sie mit Herzflattern aus. Eine Freundin, die sie als unbefangenes Mädchen kannte, sagte über Nadine, sie sei über Nacht erwachsen geworden. Wenn sie früher auf den Rummelplatz ging, drehte sich kein Karussell schnell genug. Heute ist sie die Spaßbremse. „Ich habe Angst vor dem Tod, ich weiß, dass ich jeden Tag sterben könnte“, sagt Nadine.
Renate Grohmann, 75, Mutter der Ermordeten
Bei Renate Grohmann ist heute Handarbeitsstunde. Sie ist blind. Trotzdem wird sie zwei Knöpfe annähen. Was sie sich vornimmt, wird erledigt. Das Garn hat ihr gestern eine Freundin eingefädelt. „Zum Glück sind genügend Leute bereit, sich von mir missbrauchen zu lassen“, sagt die 75-Jährige und lacht.
Pfarrer Gottfried Walther hilft in einer viel schwierigeren Angelegenheit. Sie bat ihn, den Mörder ihrer Tochter ausfindig zu machen. Sie will ihn treffen. „Ich möchte ihm sagen, dass ich ihm nicht vergeben kann. Aber ich wünsche ihm, dass Gott ihm vergibt, dass er Freunde findet, und dass seine Eltern ihn auch jetzt noch lieben können. Anders findet er keinen Frieden mit sich.“
Viele Menschen in Meißen kennen sie, die blinde Mutter der ermordeten Lehrerin. Sie bewundern, mit welcher Fassung sie den Verlust ihres einzigen Kindes trägt, und sagen, dass sie bei ihr nie Hass gespürt hätten. Und doch hat sie gehasst. Es hat nur keiner mitbekommen. Tagsüber funktionierte sie und klagte nicht. Nur nachts ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Ihr Mann, krebskrank, starb ein Jahr nach Sigrun. Allein blieb sie zurück, saß im Wohnzimmer und weinte, Jahre lang. „Das einzige Gefühl in mir war Hass auf diesen Andreas“, sagt Renate Grohmann. Mit der Zeit aber spürte sie, die Christin, dass der Hass mit ihrem Glauben nicht zu vereinbaren war. Wie konnte sie das Vaterunser beten und vor Gott behaupten, dass sie ihren Schuldigern vergibt? Sie gestand ihrem Pfarrer, dass sie glaubt, Andreas nie vergeben zu können. Er dachte nach und sagte: „Sie müssen ihm nicht vergeben. Das kann nur Gott tun.“ Diese Antwort tröstete sie. Sie nahm ihr die Last, eines Tages darüber hinweg sein zu müssen und gab ihr die Freiheit, den Hass allmählich zu vergessen.
In der Wohnung, in der Renate Grohmann heute allein lebt, waren sie zu dritt, ihr Mann, sie und ihre Tochter. „Sie war ein so lebenslustiger Mensch“, schwärmt die Mutter. „Wenn sie kam, dann war Leben in der Bude.“ Sie kam oft, half ihren Eltern, den Alltag zu meistern, und fast immer brachte sie etwas mit. „Kurz vor ihrem Tod schenkte sie mir ein paar Schuhe“, erzählt Renate Grohmann. „Ich habe sie in den Schrank gestellt, weil sie mich so sehr an sie erinnerten. Inzwischen kann ich sie tragen.“
1000 Menschen nahmen an der Beerdigung teil. Zwei Säcke Post erhielten sie. Die Eltern von Andreas meldeten sich nicht. „Ich hatte von Anfang an unsägliches Mitleid mit der Mutter“,, sagt Renate Grohmann. „Ich fragte mich, was diese Frau jetzt durchmachen muss.“ Einmal spürte sie, dass am Grab von Sigrun jemand neben ihr stand. Sie weiß nicht, wer es war. Nur, dass es jemand war, der nicht erkannt werden wollte.
Wenn sie über Andreas nachdenkt, sieht sie die 15-jährigen Jungs vor sich, die sie selbst als Lehrerin unterrichtete. „Ich erinnere mich, dass sie eigentlich liebenswert waren, diese Jünglinge, die Männer sein wollten. Wenn sie Kummer hatten, nahm ich sie beiseite. Da weinten sie, weil sie einsam waren, überfordert, ungeliebt.“ Renate Grohmann möchte wissen, was in Andreas vorgegangen ist. Sie ist sicher, dass es nicht ihre Tochter allein war. Pfarrer Walther bemühte sich vergeblich, Kontakt zum Gefängnis aufzunehmen. Der jetzige Aufenthaltsort von Andreas wird nicht bekannt gegeben. Renate Grohmann wird warten.
Dietmar Liesch, 62, Schulleiter des Franziskaneums
Im Meißner Franziskaneum sehen sich dieser Tage die Eltern der neuen Fünftklässler um. Sie betreten Flure, die im Jugendstil dem Himmel entgegenstreben, besichtigen die frisch sanierte Aula und befragen den Schulleiter Dietmar Liesch zum Bildungsangebot des Gymnasiums. Wenn Eltern bei der Anmeldung Bedenken äußern wegen des Mordes, der hier verübt wurde, versichert er: „Wir hatten Tausende Schüler bei uns, die erfolgreich und glücklich wurden. Andreas war ein absoluter Einzelfall. Aus dem was er getan hat, lässt sich nicht schließen, dass unser Schulklima nicht in Ordnung ist.“
Direktor Liesch wird in diesen Wochen oft auf Andreas angesprochen. „Der ist doch jetzt raus aus dem Knast“, sagen die Leute. „Was würde er tun, wenn er ihm zufällig begegnete?“ Liesch vermutet, dass er Andreas nicht einmal erkennen würde. Als er ihn das letzte Mal sah, war er ein 15-jähriger Junge. Jetzt ist er ein 22-jähriger Mann.
Auch der Schulleiter hat sich verändert. Er empfand es damals als Schlag ins Gesicht, dass Andreas nicht zur Höchststrafe verurteilt wurde. Heute denkt er: „Wenn man ein Menschenleben auf die eine und siebeneinhalb Jahre auf die andere Seite der Waage legt – was soll das? Zehn Jahre gegen ein Menschenleben, das ist genauso absurd.“ Er weiß nicht, warum Andreas mildernde Umstände bekommen hat, aber er akzeptiert das Urteil. „Wir können nur hoffen, dass der Knast ihm geholfen hat.“
Liesch ist erstaunt, dass es nur siebeneinhalb Jahre brauchte, bis er so denken konnte. Er erinnert sich an den Ausnahmezustand, der an der Schule herrschte, an die verunsicherten Lehrer, die doch sonst die Wissenden sind. Sie überdachten die Regeln, die am Franziskaneum galten. Ob es die Würde eines Zehntklässlers verletzt, dass er zu Unterrichtsbeginn aufstehen muss? Ob es einen Schüler kränkt, wenn man ihm verbietet, sich auf die Fensterbank zu setzen?
Nein, die Regeln gelten noch. Etwas anderes hat sich verändert: „Früher haben wir schneller und schärfer kritisiert“, so der Schulleiter. „Heute überlege ich mir genau, welche Wirkung die Kritik entfalten könnte. Vielleicht hat ein Schüler gerade erfahren, dass die Eltern sich scheiden lassen. Wie mag es diesem verstörten Kind gehen, wenn es sich wegen eines Fehlers in die Ecke gedrängt fühlt? Es ist wichtig, so etwas zu erfragen.“
Die heutigen Schüler am Franziskaneum wissen, wer Sigrun Leuteritz war. Gesprochen wird kaum noch über sie, auch nicht im Lehrerzimmer. Dietmar Liesch bedauert das, aber die Schule sei kein geeigneter Ort für solche Gespräche. „Soll ich in der Zehn-Minuten-Pause zwischen Tür und Angel einen Kollegen beiseite nehmen: ‚Du, ich möchte mal mit dir reden!‘ – Das funktioniert nicht.“
Dietmar Liesch wird dieses Jahr in Rente gehen. Was an seiner Schule geschah, wird er nicht hinter sich lassen können. Noch immer gehen ihm Fragen durch den Kopf: „Was wäre gewesen, wenn ein Kollege mit Frau Leuteritz das Zimmer getauscht hätte? Was, wenn ich vor der Tat gewarnt worden wäre oder Andreas mit den Messern gesehen hätte?“ Gestern beim Einkaufen traf er einen ehemaligen Mitschüler von Andreas, der nach dem Ereignis nur noch Fünfen und Sechsen schrieb und das Abitur nicht schaffte. Sie umarmten sich. Im Supermarkt.