Von Christian Dittmar
Sein großer Traum war es, draußen noch einmal eine Frau kennenzulernen. Mit ihr in ein kleines Häuschen auf dem Land zu ziehen. Zusammen alt zu werden. Was man sich halt so erträumt, wenn man hinter Gittern sitzt. Nun ist Siegfried tot. Gestorben im März 2014 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Waldheim. 86 Jahre wurde er alt, 25 Jahre davon hatte er eingesessen: wegen Unterschlagung, sexueller Nötigung und Brandstiftung, die letzten 14 Jahre wegen Totschlags.

Damit war Siegfried der bisher älteste Häftling in der 2011 geschaffenen Seniorenabteilung der JVA. Mindestens zwei Jahre müssen hier alle Häftlinge absitzen, die meisten sind schon im Rentenalter. Bis zuletzt sei Siegfried voller Elan gewesen, erzählt die Sozialarbeiterin Andrea Ast. Mit ihren schwarzen Locken und dem fröhlichen Wesen wirkt die 45-Jährige wie ein Kontrastprogramm zum tristen Knastalltag. In ihrem Büro riecht es nach frischen Blumen und nicht nach kaltem Zigarettenrauch, wie im Gang, der zu den Zellen führt. „Ich weiß auch, dass viele hier gemordet oder vergewaltigt haben“ hebt Ast an, „aber zuerst sind alle Häftlinge für mich Menschen und keine Monster“,
Auch zu Siegfried hatte Andrea Ast ein gutes Verhältnis. Oft backte er Kuchen für sie und seine Mithäftlinge. 30 von ihnen kamen nach Siegfrieds Tod zu einer kleinen Trauerfeier hinter Gittern, die Gefängnispfarrerin hielt eine bewegende Rede. „Scheiße, hoffentlich fängst du jetzt nicht an zu heulen“, dachte Andrea Ast während der Totenmesse. Da war es dafür schon zu spät. Für viele Inhaftierte der Seniorenabteilung ist die studierte Sozialpädagogin wahlweise Ersatztochter- oder Mutter. Manche sind so gebrechlich, dass Ast ihnen gelegentlich beim Schuhe zu binden helfen muss, andere brauchen häufiger ihr offenes Ohr, um sich die Sorgen von der Seele zu reden.
Bei Jörg hat das nicht geklappt. Vor einiger Zeit beging der 54-Jährige Selbstmord. Als schwer Alkoholkranker bekam er schon seit Jahren Rente und saß deswegen zuletzt in der Seniorenabteilung ein. Bereits seit Längerem war Jörg depressiv gewesen, zu Andrea Ast ging er fast nie. Für sie ist sein Suizid eine freie Entscheidung, die man akzeptieren muss. „Wenn sich jemand umbringen will, kann man das auch hinter Gittern nicht verhindern“, sagt sie.
Andere, wie Horst, haben da noch mehr Lebensmut. Nach dem Tod seines Freundes Siegfried ist der 78-Jährige nun der älteste der derzeit 52 Insassen der Seniorenabteilung. Wegen eines „Sittlichkeitsverbrechens“, wie er es nennt, kam der gebürtige Freiberger Ende 2012 nach Waldheim. „Ich hatte ein Verhältnis zu einem Mädchen“ , sagt Horst und will nicht näher ins Detail gehen. Mit seiner gepflegten Erscheinung sieht er aus wie der nette Opa von nebenan.
Mittlerweile hat er sich seine Zelle wohnlich eingerichtet, mit Bücherregal, Fotos von Familienmitgliedern an der Wand und einer Obstkiste. Den Satz „Ich will das hier gesund überstehen“, wiederholt Horst wie ein Mantra. Anderthalb Jahre muss er noch einsitzen, dann will er wieder auf den Hof in der Nähe von Freiberg ziehen, wo er noch eine Wohnung besitzt. Vier Todesfälle hat Horst inzwischen in Waldheim erlebt, „aber der Mensch wird doch 120 Jahre alt“, sagt er.
Horst tut viel für seine Gesundheit, spielt Tischtennis und Billard, geht regelmäßig zur Bewegungstherapie und zweimal pro Jahr zum Kardiologen. Nach einem Schlaganfall hört er allerdings schlechter und hat auch Probleme mit einer Thrombose im rechten Bein, aber anders viele Mithäftlinge geht Horst, so oft es geht, aus seiner Zelle statt den ganzen Tag mit Fernsehen zu verbringen.
„Man muss schon eine innere Einstellung zum Altsein entwickeln“, sagt Werner Szameitat. Der 58-Jährige könnte vom Alter her schon fast einer der Insassen der Seniorenabteilung sein, sitzt aber als Justizvollzugsangestellter auf der anderen Seite der Glasscheibe, die den Zellentrakt vom Sicherheitsbereich trennt. 20 bis 30 Mal müsse er einigen Häftlingen bestimmte Sachen erklären, bis sie sie endlich verstünden, erzählt Szameitat genervt. Zudem müssten er und seine Kollegen dauernd Senioren behandeln, die in die Hose machen. „Dafür sind wir einfach nicht ausgebildet“, sagt Szameitat.
Wie viele andere Haftanstalten leidet auch die JVA Waldheim unter Personalmangel. Andrea Ast würde gern noch viel mehr mit den Häftlingen der Seniorenabteilung unternehmen, Übungen um die körperliche und geistige Fitness zu bewahren zum Beispiel. Die Frage ist aber, ob dieser Service gesellschaftlich überhaupt gewünscht ist. Oft hört Ast, dass es den greisen Gefangenen viel zu gut gehe, dass sie besser behandelt würden als viele Pflegefälle, die im Altersheim nur vor sich hinvegetieren. „Das Argument geht völlig an der Realität vorbei“, antwortet sie leicht erbost. „Freiheitsentzug bleibt immer noch Freiheitsentzug und wer das nicht glaubt, kann gerne mal eine Nacht hier verbringen.“
Otto hat schon zu viele Nächte hier verbracht. Seit anderthalb Jahren sitzt der Russlanddeutsche in der JVA Waldheim ein, weil er mal einem Geschäftspartner in die Fresse gehauen hat, wie er sagt. Das ist wohl nur die halbe Wahrheit. Seine Zeit vertreibt sich der 68-Jährige mit Malen, 14 seiner Kunstwerke hängen bereits auf den Fluren der Strafanstalt, weitere in anderen sächsischen Gefängnissen wie dem in Zeithain, wo Otto auch schon mal saß. Die meisten schickt er jedoch seiner Frau und den sieben Kindern, so wie die irische Landschaft in Öl, an der er gerade sitzt. Am liebsten würde Otto noch viel mehr malen, aber es gäbe in der JVA zu wenig Leinwand, beklagt er sich. Am Montag geht er wieder in die Kunstgruppe, in den drei Stunden, die sie dauert, schafft er fast ein ganzes Gemälde.
Auch Ottos größter Wunsch ist, noch einmal die Freiheit zu erleben. Knapp ein Jahr muss er noch einsitzen, aber das könnte schon zu viel sein. Lungenkrebs im letzten Stadium lautet seine Diagnose, die Ärzte geben ihm noch maximal sechs Monate. Mehrmals hat er schon Petitionen an den sächsischen Landtag gerichtet, doch jedes Mal wurden sie abgelehnt. Nun bleibt ihm nicht mehr viel als zu hoffen. „Mir geht es von Tag zu Tag schlechter“, sagt er und man hört das Röcheln in seiner Lunge. Auch er war bei Siegfrieds Beerdigung, so wie Horst und Andrea Ast. So werde ich nicht enden, sagte er sich dabei, immer wieder. Eine letzte Petition will er noch schreiben.