Ich soll ein braves Kind gewesen sein. Jedenfalls wurde mir immer erzählt, dass ich furchtbar gern an der Hand meines Opas gelaufen sei, dessen ganzer Stolz ich war. Zuerst in Schirgiswalde, dann in Großschönau. Dorthin war mein Vater als Post-Kraftfahrer versetzt worden. Schon früh wuchs ich in die Rolle hinein, meine Eltern zu unterstützen, da meine größere Schwester oft krank war. So erinnere ich mich, dass ich als kleiner Junge bereits Wäsche rollen ging oder beim Aufwaschen geholfen habe. Es hat ja auch nicht geschadet. Zumal beim Abwasch meine Mutter immer mit uns zwei Kindern sang. Obwohl sie nie eine musikalische Ausbildung erfahren hatte, glaube ich doch, dass sie sehr musikalisch war. Ich schlussfolgere das aus dem gemeinsamen Singen beim Abwaschen: Denn während ich und meine Schwester die Melodie sangen, steuerte meine Mutter stets die zweite Stimme bei. Daraus ist sicher meine Liebe zur klassischen Musik erwachsen. Schon als Kind entpuppte ich mich als Opernliebhaber. Ich verfolgte aufmerksam die Rundfunkzeitungen, um kein Wunschkonzert im Radio zu verpassen. Von meinem ersten selbst verdienten Geld – als Bus-Kassierer in den Sommerferien – kaufte ich mir eine Aufnahme von Schuberts „Winterreise“. Die zwei Schallplatten befinden sich noch heute in meinem Besitz.
Zu Hause spielte Religion eine prägende Rolle. Jeden Sonntag ging unsere Mutter mit uns in die Kirche. Sie war katholisch, mein Vater evangelisch – er kam nur Weihnachten mit. Ich selbst war ein begeisterter Ministrant. Nach dem Krieg hatten wir mit den Pfarrern Schneider und Reymann auch sehr interessante, mich packende Geistliche. Viele im Ort glaubten, dass ich einmal Priester werden würde. Tatsächlich gab es auch Gespräche, doch zerschlug sich diese Möglichkeit. Viel später wechselte ich zur evangelischen Kirche über, weil ich mit meinen Kindern gemeinsam zum Gottesdienst gehen und eine mögliche religiöse Spaltung in der Familie – meine Frau ist evangelischen Glaubens – nicht wollte.
Nach der katholischen Theologie neigte ich eine Zeit lang dazu, Altphilologie zu studieren. Doch schließlich begeisterte ich mich durch den guten Mathematikunterricht eines Lehrers für die Mathematik. Beinahe hätte sich dieses Studium aber zerschlagen. Und das kam so: In der siebten Klasse hatten wir eine Russischlehrerin, mit deren Art wir nicht zurechtkamen. Als sie wieder einmal einen Mitschüler zurechtwies, ging ich vor, um ihr zu erklären, dass das alles nicht stimme. In der Bankreihe murmelte ich dann vor mich hin: „So eine blöde Ziege.“ Das Murmeln war laut genug, dass sie es hörte. Daraufhin statuierte die Schulleitung ein Exempel. Gegen mich wurde ein Zehn-Punkte-Programm verhängt. Dazu zählte die Strafversetzung in eine andere Klasse, der Ausschluss aus der Pionierorganisation und von der Schulspeisung. Es gipfelte in der Verfügung, dass ich nicht das Abitur machen durfte. Gott sei Dank traf ich aber in der neuen Klasse auf einen Lehrer, der sich für mich einsetzte, so dass das ungerechtfertigt harte Strafmaß zurückgenommen wurde und ich doch noch mein Abitur machen konnte.
Aufgeschrieben von Sebastian Beutler.