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Leipzigs Alte Meister

In der ostdeutschen Hochburg von Graffiti und Street Art tut sich immer was. Im Stil ganz unterschiedlich, haben die Bilder alle ein Schicksal gemeinsam.

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Die Sternburgbrauerei wirbt mit Leipzigs bekanntesten Bauten.
Die Sternburgbrauerei wirbt mit Leipzigs bekanntesten Bauten. © Pauline Reinhardt

Von Pauline Reinhardt

Eine Hauswand an der Brühl-Arkade in Leipzig. Bunte Figuren fordern „Frieden“ und „Demokratie jetzt“, und auf einem ihrer Transparente steht: „Wir bleiben hier.“ Doch lange werden sie dort nicht mehr zu sehen sein. Die Baulücke wird mit einem Hotel gefüllt.

Das 3.000 Quadratmeter große Wandbild gegenüber dem Hautbahnhof stammt von einem der bekanntesten Künstler der Stadt, Michael Fischer-Art. Es ist zum 20-jährigen Jubiläum der Friedlichen Revolution entstanden und porträtiert das historische Ereignis in Form eines farbenfrohen Wimmelbildes. Murals, so werden diese großen Wandmalereien, die meistens die gesamte Fläche einer Häuserwand schmücken, auch genannt. In der Regel sind es legale Auftragsarbeiten. 

In Leipzig, vor allem in den studentisch und künstlerisch geprägten Stadtteilen Lindenau und Plagwitz, sind viele solcher Murals zu finden. Das liegt vor allem an den Möglichkeiten, sagt Dieter Rink, stellvertretender Leiter des Departments Stadt- und Umweltsoziologie am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung Leipzig: „Im Westen Leipzigs sind viele alte Industrie- und Gewerbebauten mit großen Wänden. Die eignen sich viel besser für große Werke.“ Außerdem werde Street Art auf neuen Häuserwänden häufig wieder übermalt.

Generell gibt es viel Graffiti und Street Art im Westen Leipzigs. Da ähnliche Techniken genutzt werden, überschneiden sich die beiden Begriffe häufig. So können auch Murals Graffiti sein. Meistens werden sie aber der Street Art zugeordnet, da Graffiti selten über bloße Tags hinausgehen, also die Signatur der Sprüherin oder des Sprühers.

Wandmalereien gibt es in Höhlen schon seit ungefähr 31.500 vor Christus, in Leipzigs Innenstadt immerhin fast 100 Jahre lang. Ein prominentes historisches Mural in Plagwitz ist die Persilwerbung an der Kreuzung von Karl-Heine-Kanal und Zschochersche Straße. „Sie ist schon seit den 30er-Jahren an dieser Wand“, erklärt Rink, „in der DDR hat sich niemand darum gekümmert, und nach der Wende wurde die Werbung extra von Henkel rekonstruiert, weil es eine der ältesten, wenn nicht sogar die älteste Wandwerbung in Leipzig ist.“

Fast 100 Jahre alt: Persil-Werbung in Plagwitz.
Fast 100 Jahre alt: Persil-Werbung in Plagwitz. © Pauline Reinhardt

Dass das Mural teilweise übersprüht wurde, habe großen Ärger hervorgerufen. Schließlich sei ein Hauptziel von legalen Wandmalereien, illegale Graffiti zu verhindern. Deshalb haben große Unternehmen wie die Sternburg-Brauerei in Reudnitz und auch der Wissenschaftspark in Sellerhausen, wo Rink arbeitet, ihre Mauern mit legaler Bemalung versehen lassen.

Die meisten Murals in Leipzig werden trotzdem von Graffiti umrahmt, die es laut Rink seit den 1990er-Jahren in der Messestadt gibt ─ seit Spraydosen verfügbar sind. „Inzwischen hat sich Leipzig zu einer der Graffiti-Hochburgen Deutschlands entwickelt: Es gibt Künstler, die extra dafür hergekommen sind.“

Im Juli letzten Jahres sprühte die Werbeagentur Outframe auf eine Hauswand der Plagwitzer Karl-Heine-Straße Werbung für die dritte Staffel der Serie „Stranger Things“. Parallel dazu hat sie online ein Video veröffentlicht, das erahnen lässt, wie viel Aufwand hinter einer so großen Malerei steckt: Dramatische Musik unterlegt das Geschehen auf der sonst so friedlichen Karl-Heine-Straße.

Studierende fahren gemächlich mit ihren Fahrrädern durch die Julisonne, während neben ihnen ein Gerüst aufgebaut wird. Mehrere Personen gleichzeitig bringen in kleinteiligen Schritten das 160 Quadratmeter große Mural an. Der Slogan lautet: „Ein Sommer kann alles verändern.“ Auch dieses Wandbild ist trotz des großen Aufwands nicht für die Ewigkeit gemacht.

Die gleiche Straße, ein Jahr früher: Der Österreicher Künstler HNRX, dessen Arbeiten europaweit ausgestellt werden, versieht eine Häuserwand mit einer Malerei aus seiner Reihe „universe of everyday objects“. Man erahnt Steckdosen, Wäscheklammern und Zündschnüre, die Buchstaben bilden: eine aufwendigere Version der darunter gesprühten Tags.

Doch es gibt auch Murals, die einen ganz anderen Stil verfolgen. Das Reudnitzer Kunstwerk mit dem verschnörkelten Schriftzug „Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber“ stammt von Mona Ragy Enayat. Die in Leipzig lebende Ägypterin malt mit leuchtenden Farben und kalligraphieähnlichen Formen. Sie verwendet eher Pastell- und Acrylfarben und hat auch für ihr Werk in der erst 2012 erneuerten Anna-Kuhnow-Straße keine Sprühdose in die Hand genommen.

Das Atelierhaus Frühauf mit den Schriftzügen "Yes" und "No".
Das Atelierhaus Frühauf mit den Schriftzügen "Yes" und "No". © Pauline Reinhardt

Noch neuer sind die Murals des Ateliers Frühauf, das in einer ehemaligen Pelzfabrik im zentralen Seeburgviertel untergebracht ist. Die Schriftzüge „Yes“ und „No“ in der Größe des Hauses gibt es dort erst seit Anfang Dezember 2019.

Ähnlich wie Graffiti scheinen solche Kunstwerke, die sofort ins Auge fallen, „Reclaim the Streets“ zu fordern. Der Unterschied liegt vor allem in der Reaktion der Betrachterinnen und Betrachter. Stadtsoziologe Rink sagt, Murals werden von der Bevölkerung wie von Hausbesitzerinnen und –besitzern stärker akzeptiert als Graffiti-Tags und bilden sogar Identifikationspunkte für einzelne Quartiere.

Wie in einem großen Freilichtmuseum können die Leipzigerinnen und Leipziger so jeden Tag kostenlos neueste Kunst betrachten ─ aber nie erwerben. Graffiti und Street Art sind ─ abgesehen von Werbung und einigen wenigen Ausnahmen wie Banksy ─ kein Teil des Kunstmarkts. Dafür kann man jeden Tag gespannt sein, was heute ausgestellt und morgen nicht mehr da sein wird.

Fische auf einer privaten Garage im Leipziger Zentrum.
Fische auf einer privaten Garage im Leipziger Zentrum. © Pauline Reinhardt