Von Sven Heitkamp, Leipzig
Der Schnitt kam nicht überraschend, der Zeitpunkt schon: Leipzigs umstrittener Jugendamtschef Siegfried Haller musste kurz nach der erneuten Wahl von Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) seinen Posten räumen. Wie kein anderer Amtschef im Leipziger Rathaus stand Haller zuletzt über Leipzig hinaus in den Schlagzeilen – meist jedoch in negativen. Es ging um Skandale im Jugendamt und es ging um die Aberkennung seines Doktortitels wegen Plagiatsvorwürfen. Eine offizielle Begründung für die Absetzung gab es indes nicht.
Jetzt wird für den 58-Jährigen Soziologen in Leipzig eine neue Position gesucht und für die Führung des Jugendamts deutschlandweit ein geeigneter Nachfolger. Der Zeitpunkt ist nicht ohne Brisanz: Der verantwortliche Sozialbürgermeister Thomas Fabian (SPD) will ausgerechnet im Sommer turnusmäßig vom Stadtrat wiedergewählt werden. Ausgang offen. Denn auch Fabian wird mittlerweile für Vorgänge im Jugendamt mitverantwortlich gemacht.
Skandale, Pech und Peinlichkeiten
Der Bereich Jugend, Familie und Bildung ist mit Abstand der größte im Leipziger Rathaus. Mehr als 400 Mitarbeiter in der Kernverwaltung, dazu rund 1.700 Stellen etwa bei Kitas, Horten, Schulpersonal und im Sozialwesen. Doch unter Haller, der im Jahr 2000 in Leipzig die Leitung übernahm und der fachlich als ausgewiesener Experte gilt, hatte es zuletzt Querelen gegeben.
Spektakulärster Fall: Der Tod eines zweijährigen Jungen, der im Juni neben der Leiche seiner drogensüchtigen Mutter in der eigenen Wohnung elend verdurstete. Unter öffentlichem Druck räumte das Jugendamt mögliche Versäumnisse bei der Betreuung der 26-Jährigen und ihres Kindes ein. Denn die Behörden hatten die Familie seit Jahren begleitet. Im Herbst musste schließlich die Leiterin des Allgemeinen Sozialdienstes (ASD) ihren Posten räumen.
Ebenfalls im Herbst sorgte die sogenannte „Kinderbande“ um 13-jährige Zwillingsbrüder bei Leipziger Händlern für Angst und Schrecken. Beinah täglich hatte ein halbes Dutzend Jugendlicher reihenweise Geschäftsleute bedroht und überfallen. Das Jugendamt reagierte aber erst unter großem medialem Druck und brachte die Anführer andernorts in Betreuungen. Doch da hatte es schon mehr als 100 Angriffe gegeben.
Ohnehin herrscht bei Mitarbeitern erheblicher Unmut über das 2010 eingeführte „Eingangs- und Fallmanagement“. Hilfesuchende müssen ihre Nöte zunächst einem „Eingangsmanager“ schildern, ehe sich die Ämter eines Falles annehmen. Dabei wechseln Klienten und Sozialarbeiter häufig. So konnten zwar persönliche Abhängigkeiten oder Betriebsblindheit vermieden werden – jedoch Fälle durchs Rost fallen. Die Sozialarbeiter, hieß es, seien Sturm gelaufen. Ohne Erfolg.
Ein verhaltensauffälliger Neunjähriger etwa wartete zwei Jahre auf professionelle Schulbegleitung. In der Zeit hätten die Betreuer viermal gewechselt, erzählen die Eltern. Jedes Mal wurde die Akte geschlossen und neu angelegt. Peinlich auch die Rüge des Rechnungshofes vom Dezember: Leipzig hatte nur spärlich im Voraus gezahlte Kindes-Unterhaltsleistungen von Schuldnern zurückgefordert. Die Rückholquote beträgt nicht mal sieben Prozent, die Außenstände 15 Millionen Euro. Jetzt wurde Personal aufgestockt, um die Fälle aufzuarbeiten.
Immer wieder war Hallers Rücktritt gefordert worden. Tenor von Kritikern: Seine wissenschaftliche Expertise sei zwar exzellent, „administrativ aber war da Luft nach oben“ und auch „die Empathie-Fähigkeit sei noch ausbaufähig“. In öffentlichen Auftritten jedenfalls wirkte der Soziologe auf Beobachter eher kühl und technokratisch. Hinzu kam der öffentliche Kampf um die Aberkennung seines Doktortitels für Philosophie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vorigen April. In seiner 400-seitigen Dissertation von 2003 – es ging um das Sanierungsgebiet Hemshof in Ludwigshafen – habe Haller „grob gegen die Regeln und Standards wissenschaftlichen Arbeitens verstoßen“, urteilte Dekan Burkhard Schnepel nach einer einstimmigen Entscheidung. Haller habe ganze Unterkapitel „wortwörtlich aus fremden Publikationen“ übernommen und „die Gutachter und den Promotionsausschuss getäuscht“. Der Gescholtene klagt jedoch beim Verwaltungsgericht Halle gegen die Aberkennung des Titels.
Die Freistellung hat die Opposition als „überfällig“ begrüßt. Sie erscheint als Entlastung von Oberbürgermeister Jung kurz nach dessen Wiederwahl vor zwei Wochen. Und sie könnte eine Befreiung für Sozialbürgermeister Fabian bedeuten, der im Stadtrat eine Mehrheit hinter sich bringen muss. Ob das gelingt, wird auch von den Personalentscheidungen der nächsten Monate abhängen.