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Lieferengpässe bei Medikamenten nehmen zu

Die Sachsen füllen ihre Hausapotheken auf. Das vergrößert die Lücken. Corona bringt aber auch ungewohnte Entlastung.

Von Stephanie Wesely
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Klare Ansage in einer Apotheke in Dresden-Laubegast.
Klare Ansage in einer Apotheke in Dresden-Laubegast. © Sven Ellger

Warteschlangen vor Apotheken – auch das gehört mancherorts inzwischen zum gewohnten Bild. „Das ist eine Reaktion auf die Corona-Pandemie. Wir lassen nur noch wenige Kunden eintreten, um die Sicherheitsabstände zu gewährleisten“, sagt Göran Donner, Sprecher der sächsischen Apothekenkammer. Zudem sei der Kundenstrom größer geworden. „Viele füllen ihre Hausapotheken auf, bevorraten sich mit Erkältungsmitteln und ihren sonst benötigten Medikamenten.“ Und er fügt hinzu: „Das ist eine Situation, wie wir sie noch nie erlebt haben. Keine Grippewelle hatte bisher solche Auswirkungen.“

Dabei müsse eine Bevorratung gar nicht sein – jedenfalls nicht bei Erkältungsmedikamenten und Mitteln zur Selbstbehandlung. „Da herrscht kein Mangel.“ Bei anderen Medikamenten aber schon. „Es sind meist die üblichen Verdächtigen, die in den letzten Jahren schon häufig fehlten, zum Beispiel Mittel gegen Bluthochdruck, Gicht und Depression sowie die Schmerzwirkstoffe Ibuprofen und Diclofenac“, sagt Donner.

Bereits im letzten Jahr waren 18 Millionen von 652 Millionen Packungen verschreibungspflichtiger Arzneimittel nicht lieferbar, wie eine Studie des Deutschen Arzneiprüfungsinstitutes zeigt. Das seien fast doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Und die Situation sei in den letzten Wochen sogar noch prekärer geworden. „Möglicherweise haben die neuerlichen Engpässe etwas mit Corona zu tun, denn es waren auch Chemiefabriken in Wuhan von Produktionsausfällen betroffen“, so Donner. Dort nahm die Pandemie ihren Anfang. „Genau sagen können wir das aber nicht. Wir Apotheker wissen nicht, welche Fabriken welchen Wirk- oder Hilfsstoff herstellen.“ Friedemann Schmidt, Präsident der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände, rechnet damit, dass sich die Lage mit der Coronakrise in den nächsten Monaten weiter verschärfen wird.

Rabattverträge befristet außer Kraft

Schmidt plädiert dafür, in Europa Maßnahmen zu treffen, um die Abhängigkeiten zu verringern, selbst wenn die Medikamente dadurch teurer würden. „Es kann nicht sein, dass wir darauf warten müssen, bis ein Schiff aus China kommt“, sagt auch Göran Donner. Denn viele Wirkstoffe werden aus Kostengründen weltweit nur von einem Produzenten hergestellt. Und dieser befände sich meist außerhalb von Europa, in China oder Indien.

Mit 1,8 beziehungsweise 0,8 Millionen Packungen am häufigsten nicht verfügbar waren im vergangenen Jahr die Blutdrucksenker Candesartan und Valsartan. Wegen krebserregender Verunreinigungen bei einem chinesischen Hersteller wurden sie vor zwei Jahren erstmals zurückgerufen. Seitdem folgten weitere Rückrufe, sodass die Versorgung von Bluthochdruckpatienten mit diesen Sartanen nicht immer gesichert ist. An dritter Stelle steht das Gichtmittel Allopurinol mit 800.000 fehlenden Packungen. Mit jeweils 700.000 Packungen im Minus sind Antidepressiva wie Venlafaxin und Schmerzmittel wie Ibuprofen und Diclofenac. Damit zeige sich immer mehr, dass Apotheker als Krisenmanager agieren müssen, wenn sie ihre Patienten wenigstens mit Alternativmitteln versorgen wollen, meint Präsident Schmidt.

Damit Patienten, die Alternativmedikamente brauchen, zumindest finanziell entlastet werden können, wurde am 13. März ein neues Gesetz verabschiedet. Sobald es in Kraft tritt – etwa Mitte April –, müssen Patienten nicht mehr für die Mehrkosten aufkommen, die durch Lieferengpässe entstehen. Zur Erklärung: Gibt es zu einem dringend benötigten Medikament kein kostengünstiges Austauschpräparat, muss zum Originalmedikament oder zu Re-Importen dieser Originale gegriffen werden. Die übersteigen aber meist die Preisgrenze, die die Krankenkassen übernehmen. Mehrkosten zwischen 20 und 70 Euro pro Medikament waren in letzter Zeit keine Seltenheit. Diese mussten die Patienten privat bezahlen. Nach dem neuen Gesetz sollen dafür künftig die Krankenkassen aufkommen.

Doch zuvor müssen sich erst Apothekerverband und Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung auf ein Prozedere einigen. „Im Moment weiß noch niemand, wie die Umsetzung des Gesetzes aussieht“, sagt Hannelore Strobel, Sprecherin der AOK Plus. Kassen und Apotheker wollen eine praxisnahe, unbürokratische und rechtssichere Verfahrensweise.

Lockerere Abgaberegeln für Rabatt-Arzneimittel

Eine Art Generalprobe zur Umsetzung dieses neuen Gesetzes praktizieren die großen Krankenkassen bereits jetzt: Um die Patienten und Apotheker vor Ansteckung zu schützen, wurden die Abgaberegeln für Rabatt-Arzneimittel gelockert. Für den Fall, dass das verschriebene Mittel nicht vorrätig ist, müssen die Patienten nun kein zweites Mal kommen, sondern dürfen direkt ein vorrätiges, wirkstoffgleiches Präparat mitnehmen. Der Apotheker müsse nur ein spezielles Kennzeichen vermerken, damit die Abrechnung mit den Kassen erfolgen kann. 

Krankenkassen wie die IKK classic bitten aber die sächsischen Apotheker, die Abgabe eines anderen, gegebenenfalls unbekannten Medikaments den Patienten zu erläutern. Ersatzkassen wie die TK in Sachsen betonen ausdrücklich, dass diese Maßnahme zunächst bis zum 30. April befristet sei und noch nichts mit dem neuen Gesetz zu tun habe. „Dies ist eine Lösung für die aktuelle Situation, in der es vor allem darum geht, Personenkontakte und Belastungen zu minimieren“, sagt Simone Hartmann, Leiterin der TK-Landesvertretung.

Diese Aufklärungsarbeit belastet die Apotheken zusätzlich. Denn die Corona-Pandemie hat auch Auswirkungen auf die Personalsituation. „In unseren Apotheken arbeiten viele junge Frauen, die durch den Wegfall der Kinderbetreuung zusätzlich unter Druck geraten“, sagt Göran Donner. „Unsere Kolleginnen sind aber sehr verantwortungsbewusst. Sie nutzen weitestgehend die Möglichkeiten der Notbetreuung. Denn sie sind jetzt einfach unverzichtbar.“ Sächsische Apotheken böten auch Lieferdienste an, wenn Patienten nicht hinausgehen wollen. „Wir praktizieren eine kontaktlose Übergabe. Die Behälter werden vor der Tür abgestellt, bezahlt wird per Überweisung.“

Derzeit sehnen alle ein Ende der Pandemie herbei. „Doch die Arzneimittelengpässe werden uns wohl noch darüber hinaus beschäftigen“, ahnt Göran Donner. Er hofft, dass die Coronakrise noch deutlicher vor Augen führt, welche Nachteile die Auslagerung der Arzneimittelproduktion in Billiglohnländer hat. „Das muss eigentlich die Motivation der Politik erhöhen, nach Lösungen zu suchen.“

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