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Der Lieferheld für Senioren

Volker Elmhorst fährt dorthin, wo es keine Lebensmittel in Laufnähe gibt. Auch in Corona-Zeiten. Wenn der Supermarkt nach Hause kommt – ein Ortstermin.

Von Tobias Wolf
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Volker Elmhorst versorgt aus dem Transporter heraus vor allem ältere Menschen in der Corona-Krise mit frischen Lebensmitteln.
Volker Elmhorst versorgt aus dem Transporter heraus vor allem ältere Menschen in der Corona-Krise mit frischen Lebensmitteln. © Ronald Bonß

Volker Elmhorst ist ein paar Minuten zu spät dran, als er in der Einfamilienhaus-Siedlung in Dresden Briesnitz um die Ecke biegt. Sein gelber Lieferwagen wird längst erwartet.  Der 90-Jährige hat sich am Gartentor in Position gebracht, den Einkaufsbeutel um den Arm geschlungen.

Eine Nachbarin steht auch bereit. Bloß keine Zeit verlieren. Während Elmhorsts Wagen ausrollt, schreitet der Senior schon über die Straße, ein paar Meter über den Fußweg und er steht vor dem vielleicht kleinsten Supermarkt Dresdens.

Elmhorst stellt den Motor ab, geht durch die schmale Tür nach hinten und zieht an einem Hebel. Zwei Klappen schwingen auf, eine kleine als Ladentheke, die große als Wetterschutz. Hans-Jörg Schmidt, dünne Brille, grauer Anorak, schütteres Haar, hat eine Einkaufsliste dabei. „Ich brauche Frischkäse ohne Kräuter und einen Fleischsalat“, sagt der Rentner, rattert den Rest des Zettels herunter und guckt dann in die Auslage, der Blick verweilt beim Frischgemüse, streift Mandarinen, Pampelmusen und Kiwis.

Hans-Jörg Schmidt ist Stammkunde bei Volker Elmhorst. Der 90-Jährige hat keine Angst vor Corona. Er hat als Teenager die letzten Kriegstage 1945 erlebt, als alles zusammenbrach.
Hans-Jörg Schmidt ist Stammkunde bei Volker Elmhorst. Der 90-Jährige hat keine Angst vor Corona. Er hat als Teenager die letzten Kriegstage 1945 erlebt, als alles zusammenbrach. ©  Ronald Bonss

Elmhorst deutet auf die erste Reihe. „Heute habe ich Salat, vielleicht die Salatherzen?“ Schmidt wiegt den Kopf hin und her, guckt sich Himbeeren und Erdbeeren an. Okay, den Salat nehme er auch. Elmhorst reicht ihm eine große Tüte. „Ihre bestellten Brötchen nicht vergessen, sonst gibt es zu Hause Ärger.“ Beide lachen. Sie kennen sich. 16,52 Euro kostet der Einkauf. Schmidt verabschiedet sich.

Die Nachbarin, um die 80 Jahre alt, will Geflügelsalat und Joghurt, guckt sich abgepackten Chicoreèe an, greift nach den Salatherzen und einer Gurke. „Haben Sie noch etwas Süßes mit Waffeln?“ Elmhorst grinst. „Na klar, Erdbeer, Zitrone oder Mischung?“ Die Zitronenwaffel macht das Rennen, dazu gesellen sich eine Blutwurst, zwei Paar Wiener und ein Harzer Käse. Alles zusammen knapp 30 Euro.

Elmhorsts rollender Tante-Emma-Laden gehört zu einer Flotte von elf Spezialfahrzeugen mit Kühltheke, Kühltruhe und Standheizung, die seit fast drei Jahrzehnten in Gebiete fahren, in denen die Wege zum nächsten Supermarkt weit sind. 210 Haltestellen im Landkreis Meißen, in Mittel- und Nordsachsen und im Raum Dresden. Die Basis ist in Leuben-Schleinitz, zwischen Döbeln, Meißen und Riesa. Die Stammkundschaft ist zwischen 80 und 90. Manche kaufen kleine Dinge, andere erledigen gleich den Wocheneinkauf.

Wo der mobile Supermarkt von Pflugs mobile Frische GmbH hält, bildet sich mancherorts sofort eine kleine Schlange.
Wo der mobile Supermarkt von Pflugs mobile Frische GmbH hält, bildet sich mancherorts sofort eine kleine Schlange. © Ronald Bonß

Die Wagen der Firma Pflugs Mobile Frische sind so eingerichtet, dass jeder Zentimeter genutzt wird. Vorn frisches Obst und Gemüse, dahinter die Kühltheke mit Feinkostsalat, Fischprodukten, Käse, Butter und Margarine. Darüber Würstchen im Glas, Leberwurst, Schmalzfleisch, gekochtes Huhn. Ein Stück daneben Schnaps und Knabberzeug, an der Rückwand Tierfutter, Süßigkeiten und Konserven.

Hans-Jörg Schmidt ist wieder da. „Ich hab’ Zitronen vergessen.“ Der pensionierte Chemiker ist dankbar, dass Volker Elmhorst mit seinem rollenden Supermarkt jeden Dienstag bei ihm vor der Tür hält. Schmidt sagt, er habe keine Angst oder Panik angesichts der Corona-Krise. Die Ausgangsbeschränkungen sehe er gelassen.

Er habe als Teenager hier die letzten Kriegstage 1945 erlebt, als man das Wasser plötzlich wieder aus einer Quelle holen musste, die Infrastruktur zerstört war und die Leute hungerten. „Vielleicht nehme ich das heute deshalb auch ganz anders an.“ Wenn er irgendwohin müsse, habe er Einmalhandschuhe dabei. Ein kurzer Plausch, dann muss Elmhorst, den die Kollegen Elmi nennen, weiter. Gut hundert Meter und einmal um die Ecke. Dort warten zwei Kundinnen.

Noch mehr Nachfrage durch Corona-Krise

Seit Corona ist die Nachfrage gestiegen, sagt Volker Elmhorst. „Viele, die früher nur einen Teil der Einkäufe bei mir gemacht haben, kaufen nun alles, weil ich direkt vor die Tür komme.“ Der 60-Jährige ist seit 28 Jahren unterwegs. Belädt er seinen Wagen in „normalen“ Zeiten frühmorgens, muss er jetzt abends den nächsten Tag vorbereiten. „Sonst wird es an den Haltestellen ganz eng.“ Ein Spagat, allein an diesem Dienstag steuert er 30 Plätze an. Erst im Dresdner Norden und schließlich im Westen, in Briesnitz und Cotta.

Eine 80-jährige, Chino-Hose, Jacke und Beutel im gleichen Blauton, guckt abwechselnd auf zwei Zettel. Sie kauft für sich und die Nachbarin ein. Kaffee, ein Fertigsüppchen, Toast, ein Milchbrötchen. Dazu Bierschinken, ein Duftstein für die Toilette, österliche Süßigkeiten, eine Tüte Gummibären. Im Takt der Bestellung legt Elmhorst die Waren in den Korb, fragt dann: „Heute kein Stück Kuchen wie sonst?“ Die Frau lacht. „Nein, das geht mit der Zeit zu sehr auf die Hüften. Kommen Sie nächste Woche wieder?“ Elmhorst nickt.

Uta Jacobs fährt in "normalen" Zeiten viel mit ihrem Mann herum, besucht mit dem Auto andere Städte und geht auch andernorts einkaufen. „Jetzt mit Corona, das ist doch kein Leben mehr.“
Uta Jacobs fährt in "normalen" Zeiten viel mit ihrem Mann herum, besucht mit dem Auto andere Städte und geht auch andernorts einkaufen. „Jetzt mit Corona, das ist doch kein Leben mehr.“ © Ronald Bonß

Von Uta Jacobs sind nur Augen, Brille und Haare zu sehen. Mund und Nase stecken hinter einem Tuch, die Hände in Handschuhen. Salzstangen, Schoko-Vanille-Pudding,Quarkkäulchen und Spargel landen auf der Theke. Mit ihrem Mann bewohnt die 85-Jährige ein Einfamilienhaus.

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„Wir sind viel unterwegs, mit dem Auto ins Grüne oder in andere Städte und gehen auch noch woanders einkaufen“, sagt Jacobs. „Jetzt mit Corona, das ist doch kein Leben mehr.“ Gegen die Langeweile sprechen die beiden Lehrer nun manchmal Russisch miteinander. Elmhorst staunt.

Magdalena Dießner wohnt hinter der nächsten Ecke. Bei der 90-Jährigen hält Elmhorst vor der Tür. Sie hat Mühe zu gehen, macht aber Späße über das Alter. „Ich schaffe es gerade noch bis ans Tor“, sagt sie. Über der Kittelschürze mit Blumenmuster trägt sie ein Jackett. Eine Tüte Brötchen, Margarine, Blauschimmelkäse, Bonbons und Schokolade wandern in den Korb, dazu Mayonnaise, dreimal Gänsefett – sicher ist sicher. 

Magdalena Dießner ist nicht mehr gut zu Fuß. Volker Elmhorst trägt ihr den schweren Korb deshalb noch rein.
Magdalena Dießner ist nicht mehr gut zu Fuß. Volker Elmhorst trägt ihr den schweren Korb deshalb noch rein. © Ronald Bonß

Dann erspäht sie in einem Regal hinter Elmhorst die Waffeln. „Was, das haben Sie dabei? Auch noch Zitrone. Das ist meine Sorte.“ Zwei Mini-Fläschchen Jägermeister sollen noch sein. „Ich hab bissl mehr gesoffen letzte Woche“, sagt Dießner und grinst Elmhorst an. Der lacht. Er liebt seine Kunden. Der Kontakt zu ihnen bedeutet dem Mann inzwischen alles. Dießner sagt: „Ich bin froh, dass ich meinen Herrn Elmhorst habe.“

Zu DDR-Zeiten war Elmhorst, dessen Vorfahren aus Flensburg stammen, erst Maler und ging dann zur Handelsorganisation HO. Mit dem mobilen Supermarkt wollte er nur die Arbeitslosigkeit nach der Wende überbrücken. „Dann bin ich doch dabei geblieben.“

Dießner bekommt ihren Jägermeister. „Ich will noch Plätzchen. Das ist mein Abendfutter.“ Auch sie will wissen, ob er wiederkommt. Elmhorst nickt. Dann trägt er ihr den schweren Korb noch in die Garage. 

Für Hochbetagte, die keine Einkäufe tragen können, packt Volker Elmhorst die Lebensmittel zusammen und bringt sie notfalls bis in die Wohnung.
Für Hochbetagte, die keine Einkäufe tragen können, packt Volker Elmhorst die Lebensmittel zusammen und bringt sie notfalls bis in die Wohnung. © Ronald Bonß

Als Nächstes manövriert Volker Elmhorst den Lieferwagen rückwärts neben ein Mehrfamilienhaus. Ilse Goldschmidt, 95, wartet auf ihren Lieferhelden mit dem besonderen Service: Er bringt die Einkäufe in die Wohnung, die Rechnung bezahlt ihr Pflegedienst.

Mit reichlich Abstand zu Goldschmidt geht Elmhorst in die Küche. Der Kühlschrank ist fast voll. „Die Bananen gehören hier aber nicht rein, die werden doch braun“, tadelt Elmhorst. Die Seniorin nickt. Elmhorst beratschlagt mit ihr, das Essen im Kühlschrank reicht noch eine ganze Weile, aber Kaffee, Blumen und frische Bananen hätte sie gern. Dazu ein bisschen Schokolade.

Draußen wartet Christa Zieger schon auf Elmhorst. Sie will Süßigkeiten. Bald ist Ostern. „Eine Vollmilchschokolade und vier Häsel bitte“, sagt die 86-Jährige. Elmhorst gibt ihr in Goldfolie verpackte Hasen, Pralinen, Schokoeier und rosa Tulpen Seit sieben Jahren kauft sie bei ihm. Auch ihr trägt er den Korb bis an die Haustür. 

„Vollmilchschokolade und vier Häsel bitte“. Die 86-jährige Christa Zieger hat Süßigkeiten für Ostern und frische Tulpen gekauft.
„Vollmilchschokolade und vier Häsel bitte“. Die 86-jährige Christa Zieger hat Süßigkeiten für Ostern und frische Tulpen gekauft. © Ronald Bonß

Christa Zieger scherzt mit Elmhorst, lacht und freut sich über den kurzen Moment der Ansprache. „Vor drei Jahren habe ich meinen Mann verloren“, sagt sie. „Das ist nicht so einfach für mich.“ Elmhorst guckt ihr für einen Moment versonnen hinterher.

Der Feierabend naht. In Dresden-Cotta, abseits einer Hauptstraße, parkt Volker Elmhorst sein gelbes Lebensmittel-Mobil zwischen niedrigen Wohnblöcken aus den 1930er-Jahren. Es dauert keine Minute und vier Frauen haben eine Schlange gebildet. Manche brauchen einen Rollator oder Krücken, aber den Weg zu Elmhorsts Mini-Supermarkt wollen sie offensichtlich unbedingt nehmen.

Ilse Schelesniak geht gern selbt mal gucken, anstatt nur Einkaufslisten mitzugeben.
Ilse Schelesniak geht gern selbt mal gucken, anstatt nur Einkaufslisten mitzugeben. © Ronald Bonß

Ilse Schelesniak hat zwar ihren Sohn und dessen Familie um die Ecke, geht aber gern selbt zu Elmhorsts Wagen einkaufen. Die 82-Jährige liebt ihr Viertel, weiß aber auch, dass es weit abgelegen ist. Der nächste Discounter sei für Senioren kaum zu Fuß zu erreichen. "Man will ja selber mal gucken gehen und nicht nur einen Einkaufszettel mitgeben." Bei Elmhorst nimmt sie heute auch einen Sack Kartoffeln mit.

Für manche ist die Einkaufsmöglichkeit im mobilen Lebensmittelladen vielleicht eines der letzten Dinge, die sie noch selbstbestimmt und ohne fremde Hilfe tun können, die Chance, in den eigenen vier Wänden ein bisschen Lebensqualität zu genießen. Auch dafür fährt Volker Elmhorst jeden Tag in die Ecken von Sachsen, in denen der Weg zum Supermarkt zu weit ist.