Von Susanne Plecher
Lina klettert die Rutsche hoch. Vorsichtig setzt sie das rechte Bein vor, das linke nach und ab geht die wilde Sause. Lina strahlt. Sie ist voller Lebensfreude. Und schwer behindert. Während ihrer Geburt hatte sie einen Schlaganfall und Hirnblutungen, sagt ihre Mutter Nancy Richter. Als sie vor knapp dreieinhalb Jahren mit Blaulicht zum Notkaiserschnitt gebracht wurde, habe eine Ärztin ihr gesagt: „Frau Richter, wir holen jetzt ein halb totes Kind.“
Linas Chancen standen schlecht. Drei Tage lang war nicht sicher, ob sie überleben würde. Das hat sie, zum Glück. Ihre rechte Körperhälfte ist zum Teil gelähmt, sie hat eine leichte Spastik in der Hand, einen nach innen gekehrten Spitzfuß, trägt seit dem vierten Lebensmonat beidseitig Hörgeräte. Amtlich bestätigt ist ein Grad der Behinderung von 70 Prozent. Seit Januar dieses Jahres hat sie die Pflegestufe 1.
Lina sitzt auf der Schaukel. Ihre Löckchen schwingen lustig im Wind. Sie jauchzt vor Freude. Krankenhausaufenthalte, Therapien, Rehas haben ihre Eltern und sie hinter sich gebracht. Derzeit hat sie sechs Therapietermine pro Woche: Physio- und Ergotherapie, Frühförderung. Jüngste Hilfe gibt ein Hüft-Knie-Rotationsgurt. Er wird am Sprunggelenk befestigt und in einer Spirale über das Bein bis zur Hüfte geführt. Er zieht den sonst nach innen gedrehten Fuß gerade. Das Mädchen läuft nun besser und sicherer, stürzt seltener, nimmt an den Spielen ihrer Altersgenossen teil. Er hat ihr Leben ein bisschen normaler gemacht.
Der Rotationsgurt kostet die Krankenkasse 167,15 Euro. Die AOK hat den Antrag auf Erstattung abgelehnt, denn der Gurt ist nicht im gesetzlich vorgesehenen Hilfsmittelverzeichnis gelistet. Die Kasse hat den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung eingeschaltet. Der kam zu dem Ergebnis, dass nach Angaben des Herstellers der Gurt erst ab einem Körpergewicht von 41 Kilogramm und einer Größe von 147 Zentimetern einsetzbar ist. „Das ist Quatsch“, sagt Nancy Richter. „Die Bandage ist für kleine Kinder angefertigt und Lina angepasst worden.“ Ihren Widerspruch, der dritte in der Angelegenheit, prüft jetzt der Widerspruchsausschuss der Kasse. „Wir können gut verstehen, dass es ihr Wunsch ist, Linas Entwicklung optimal mit Hilfsmitteln zu unterstützen“, schreibt Hannelore Strobel, Pressesprecherin der AOK Plus.
Deshalb habe die Kasse eine Vielzahl von Hilfsmitteln bereitgestellt. Aber eine Empfehlung des Hausarztes bzw. Therapieberichte zum Einsatz des Gurtes „liegen uns nicht vor“, schreibt Frau Strobel. „Ich habe der Kasse alle Arzt- und Therapieberichte zugefaxt, nachdem die erste Ablehnung kam“, versichert Frau Richter. Fakt ist, dass das Dresdner Sanitätshaus Steffen Israel in Vorleistung gegangen ist, damit nicht noch mehr Zeit verstreicht. Sollte es bei der Ablehnung des Antrages bleiben, trägt der Inhaber die Kosten.
Lina schaufelt Sand in ein Eimerchen. „Ich backe Kuchen für die Mama“, sagt sie. Die Mama lächelt. „Lina hat immer gute Laune. Das gibt mir Kraft“, sagt sie. Die braucht sie auch. Das Leben von Nancy Richter, 24 Jahre alt, Altenpflegerin im Schichtdienst in Großenhain, dreht sich seit Linas Geburt nur noch um die Gesundheit ihrer Tochter und nun auch um die Auseinandersetzung mit Amt und Krankenkasse. Die Beziehung zu Linas Vater ist darüber zerbrochen. Für das Kind ist er trotzdem da.
Manchmal kommt Lina mit ins Heim. Sie wärmt den Alten das Herz. Dass ihre Mama ähnliche Kämpfe um Merkzeichen für den Schwerbehindertenausweis ausfechten muss wie einige Senioren, davon merkt sie nichts. Nancy Richter hat den Buchstaben „B“ beantragt. Der steht für „ständige Begleitung“ und würde enorm helfen. Wer das „B“ hat, kann sich Fahrkosten von der Krankenkasse erstatten lassen. Aber der Gesetzgeber hat strikte Kriterien vorgegeben: „Eine Berechtigung ist bei schwerbehinderten Menschen gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind.“ Querschnittsgelähmte und Blinde etwa. Das ist Lina nicht. Ihr Grad der Behinderung reicht für das „B“ nicht aus. Sondergenehmigungen für Kinder gibt es nicht. „Für die Beurteilung sind dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist nicht zu prüfen, ob behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen“, teilt Amtsleiterin Bärbel Seifert mit. Im Klartext: Die Eltern müssen die Kosten weiterhin allein schultern.
Dafür kann das Sozialamt nichts, wohl aber für die Säumigkeit: Knapp vier Monate, nachdem Frau Richter in Meißen einen entsprechenden Antrag gestellt hatte, kam die Ablehnung. Ihr Schreiben vom 2. September 2013 lag zunächst sechs Wochen ungelesen auf der Poststelle, wurde am 7. Januar 2014 nach Sachaufklärung dem ärztlichen Dienst zugeleitet, der zwei Tage später ablehnte. „Wir sind stets bemüht die Bearbeitungszeit so kurz wie möglich zu halten“, antwortet Bärbel Seifert auf die Frage, warum das so lange dauerte.