"Ich sage euch, es ist freiwilliger Zwang"

Die breiten Schrifttafeln waren nicht zu übersehen. In immer mehr Dörfern der Südlausitz wurden sie im Frühjahr 1960 unter den Ortseingangsschildern angebracht. In großen Lettern prangten darauf zwei Worte: "vollgenossenschaftliches Dorf". Sollte heißen: Die Landwirtschaft der Einzelbauern gehört der Vergangenheit an, ihr "freiwilliger Zusammenschluss" in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) ist vollzogen. Am 11. April 1960 wurde informiert, dass der Kreis Löbau vollgenossenschaftlich sei, bereits am 7. April war diese Meldung für den Kreis Zittau abgegeben worden.
Offiziell wurde dieser Schritt "Vom Ich zum Wir", bereits von der II. SED-Parteikonferenz 1952 vorgegeben, euphorisch gefeiert. Doch wie er vollzogen wurde, das löst heute noch Kopfschütteln aus. Dabei war das Ziel durchaus nachvollziehbar: Mehr und bessere landwirtschaftliche Produkte für die Bevölkerung ließen sich nicht mit bäuerlicher Kleinproduktion erzeugen – auf kleinen Handtuchfeldern, in beengten Ställen. Das sahen vor allem die Neubauern, denen mit der Bodenreform 1945 um die sechs Hektar Land zugesprochen wurde, als Erste ein. Zumal ihnen die landwirtschaftliche Erfahrung und die technische Ausstattung fehlte. Sie schlossen sich zusammen und gründeten die ersten LPG, beispielsweise in Kottmarsdorf.
Für viele gestandene Familienbetriebe dagegen, die über Jahrzehnte ihre Höfe vererbt und anerkannt geführt hatten, war die LPG ein rotes Tuch. Ihre Betreiber schworen auf die eigene Scholle und ließen sich von immer neuen Meldungen über neugegründete Genossenschaften nicht beeindrucken. Auch vorübergehend aufgelegte Dorfzeitungen änderten daran nichts, ebenso wenig Flugblätter, die zum Beispiel die Einzelbauern von Lawalde, Lauba und Ottenhain aufforderten: "Halte Schritt – komm mit uns mit! Werde noch heute Mitglied einer LPG!"

So standen bereits 1959 Orte am Pranger, die "in der sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft zurückgeblieben" waren. In Eibau wurden sogenannte Aufklärungsaktive gebildet, denen zwei bis drei Bauernwirtschaften zugeteilt wurden. Diese "Agitatoren" kamen immer wieder, oft auch mit Leuten, die von Landwirtschaft kaum Ahnung hatten. Die Aufklärungseinsätze stießen teils auf heftigen Widerstand. "Wenn ihr nochmal kommt, jagen wir euch mit dem Knüppel raus. Euch soll der Teufel holen", ist die Aussage eines Obercunnersdorfer Bauern überliefert. In Schlegel sollen die Agitatoren mit diesen Worten Kontra bekommen haben: "Richtet doch ein Museum für Einzelbauern ein. Wenn da auch kein anderer hinkommt, wir werden bestimmt dort wohnen."
Der Nötigung wurde letztlich so groß, dass die meisten LPG-Gegner in letzter Minute ihre Beitrittserklärungen unterschrieben. Eine ältere Bäuerin aus dem Löbauer Nordgebiet soll dabei gesagt haben: "Eins sage ich euch, es ist freiwilliger Zwang." Doch nicht alle Bauern verkrafteten diesen Druck. Einige verließen die DDR gen Westen, andere begingen gar Selbstmord.
Am 25. April 1960 bestätigte die DDR-Volkskammer "den vollständigen Übergang der Bauern zu genossenschaftlicher Arbeit" – offiziell. Denn noch immer gab es Einzelbauern. In Eibau wurden zum Beispiel Ende 1960 noch 21 genannt, wie aus Akten des Gemeindearchivs hervorgeht.

Dennoch existierte nun eine Vielzahl Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, vor allem durch die Neugründungen im Frühjahr 1960. Viele gestandene Einzelbauern schlossen sich zunächst zu "Alibi-LPGs" vom Typ I mit benachbarten Höfen zusammen und brachten nur die Felder ein. Die neuen Genossenschaften gaben sich meist geographische Namen. In Ruppersdorf hießen sie zum Beispiel "Blauer Stein", "Sonnenhübel", "Ninive" oder "Schwan". Das äußere Erscheinungsbild änderte sich nur schrittweise. Die Hektargrößen waren noch bescheiden, sodass der Einsatz von Mähdreschern und anderen Großmaschinen, die damals noch die Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) zur Verfügung stellten, längst nicht optimal war. Alte Technik war nach wie vor gefragt.
Zusammenschlüsse kleinerer Genossenschaften waren folglich nur eine Frage der Zeit. Der Verdienst war zunächst niedrig. In Ruppersdorf musste in einer LPG 1962 für eine Arbeitseinheit im Wert von 7 DDR-Mark sechs bis sieben Stunden gearbeitet werden. Nachdem es wirtschaftlich bergauf gegangen war, konnten bis zu 16,50 DDR-Mark für eine Arbeitseinheit gezahlt werden.Während im Gebiet Löbau-Nord bereits 1964 eine Meliorationsgenossenschaft insbesondere für die Abwasserverregnung gegründet worden war, der 13 LPGs beitraten, kam es rund zehn Jahre nach der Ausrufung der vollgenossenschaftlichen Dörfer zur Spezialisierung. Pflanzenbaubetriebe schlossen sich zur Kooperativen Abteilung Pflanzenproduktion (KAP) zusammen. Später wurden daraus selbstständige LPG Pflanzenproduktion.
Auch die Tierproduktion, bisher vorrangig in den LPGs vom Typ III konzentriert, wurde selbstständig. Große Milchviehanlagen wie in Eibau, Obercunnersdorf oder Dürrhennersdorf wurden gebaut. Hinzu kamen soziale Leistungen wie Urlaub, der bei einem früheren Einzelbauern undenkbar gewesen wäre. Inzwischen war die Einsicht gereift: "Die Sache mit der Gemeinsamkeit ist gar nicht so schlecht."
Unter Verwendung von Chroniken aus Eibau, Georgewitz, Kottmarsdorf, Löbau, Obercunnersdorf, Ruppersdorf