Fast alles ist möglich – wenn man kämpft

Seit dem 21. März sollte der Dresdner Startrompeter, Dirigent und Entdecker alter Musikschätze Ludwig Güttler beim diesjährigen Festival „Sandstein und Musik“ für Konzerterlebnisse sorgen. Er ist der künstlerische Leiter des seit 28 Jahren stattfindenden wichtigsten sächsischen Festivals außerhalb der Metropolen. Doch statt selbst zu musizieren, den Aufführungen von Kollegen zu lauschen und Talente mit Förderkonzerten zu motivieren, ist der 76-Jährige derzeit im Homeoffice in Kärnten bei seiner neuen Frau. Er lamentiert nicht, übt, sitzt über Partituren und Konzepten. Zeit für ein Gespräch, warum er über das vermeintliche Nichtstun nicht jammert, wie verpflichtend Freiheit sein sollte und warum immer mehr als nichts möglich ist.
Herr Herr Güttler, derzeit sollte eigentlich Ihr Festival „Sandstein und Musik“ stattfinden. Dessen Thema „Freiheit und Wagnis“ könnte angesichts von Corona kaum aktueller sein, oder?
Ja, denn Freiheit und Wagnis gehören ja in mehrfacher Weise, sich quasi bedingend, zusammen. Auch die Freiheit, etwas zu wagen, etwas zu unternehmen, um es zu riskieren, abgesehen davon, ob man diese Freiheit gegeben bekommt oder sich selbst nimmt. Oberflächlich gesehen würde es lauten: Freiheit und Wagnis – da ist es egal, ob man etwas macht oder nicht. Ein Vergleich: Wer es wagt, beispielsweise im Elbsandsteingebirge den Aufstieg zu versuchen, wird im Zweifel oben unglaublich belohnt. In vielen Phasen des Lebens ist das so, in vielen künstlerischen Prozessen, ob ein Musikschüler eine Tonleiter übt, ein Musikstudent eine Etüde erarbeitet oder ein Trompeter zur Meisterschaft strebt.
Frustriert nicht der Gedanke, dabei nie wirklich ans große Ziel zu kommen?
Die innere Freiheit zu erleben, etwas geschafft zu haben, irgendwo angekommen zu sein, widergespiegelt zu bekommen, das ist für andere wertvoll – es bleibt immer eine Aufgabe. Man hat nie so viel drauf, dass man nichts mehr dafür grundsätzlich tun müsste. Das Schöne daran, die Aufgabe erhält einen munter und aktiv. Umso mehr, wenn man das Glück wie ich hat, sein Lieblingsinstrument bis ins hohe Alter auf gutem Niveau spielen zu können.
Ist Freiheit nur Chance oder zugleich Verpflichtung?
Aus der Freiheit erwächst die Verpflichtung, all jenen, die sich bemühen und kämpfen, behilflich zu sein: durch Hinweise, durch Vorbild, durch Mutmachen.
Wie können Sie den Künstlern wie dem Publikum vom lahmgelegten Festival „Sandstein und Musik“ Mut machen?
Ich glaube immer noch, dass die Chance besteht, die eine oder andere der 28 Veranstaltungen bis Ende Dezember durchzuführen. Natürlich in einem ganz anderen Rahmen, als geplant. Das Publikum muss die Abstände einhalten wie wir Ausführende. Klar ist: Bei so ausgedünnten Besucherzahlen sind die ökonomischen Erwägungen unserer geplanten und auch notwendigen Einnahmen zu vernachlässigen. Aber es kann etwas stattfinden. Ich bin derzeit in Kärnten und gebe hier jeden Abend mit Kollegen aus der Region vor der Haustür für zehn Minuten kleine Konzerte. Ergo: Mehr als nichts ist immer möglich! Außerdem: Das Festival ist doch nicht tot. Es kann nur derzeit nicht stattfinden. Die Arbeit an solchem Festival, die Beschäftigung mit den Ensembles und Komponisten, geht ja weiter. Nehmen Sie beispielsweise unseren diesjährigen Schwerpunkt Ludwig van Beethoven – mit dem sind Sie nie an einem Endpunkt, sondern eher auf dem Weg dorthin. Und deshalb ist es nicht nur ein Wunschdenken, sondern Gewissheit. Unserem Festival von 2020 wird ein wieder lebendiges folgen – im nächsten Jahr.
Der große B., den wir zu dessen 250. feiern wollten, kann wegen C. nicht stattfinden. Was aber können wir vom Jubilar Beethoven dennoch heute lernen?
Wenn man in dem Bewusstsein lebt, ich höre immer schwerer und bald werde ich taub sein und ich wage mich trotzdem an Kompositionen ran, die alle Leute hören können, außer mir selbst. Dann ist das ein grandioses, starkes Bewusstsein, was nur aus einer nicht einzudämmenden Freiheit gespeist wurde. Beethoven wagte, alles was vorher war, nicht nur zu verwenden, sondern infrage zu stellen. Und durch dieses Infragestellen und Beantworten würdigte er die Tradition neu, schuf Revolutionäres und Bahnbrechendes.
Sie wagten 1980 nach elf Jahren als Dresdner Philharmoniker den Schritt zum einzigen freiberuflichen Klassiksolisten. Woher kam der Mut dazu?
Ich war gerne Solotrompeter der Philharmonie, habe aber damals schon solistisch konzertiert. Ich hatte bereits das Leipziger Bach-Collegium und mein Blechbläserensemble gegründet und mit ihnen erfolgreich musiziert. Ich war Gast bei vielen DDR-Orchestern und im Ausland. Alle DDR-Künstler, die im Westen gastieren durften, blieben sicherheitshalber Mitglied in einem DDR-Ensemble. Mich haben alle gewarnt, in der DDR freischaffend zu sein. Diese Kategorie gab es nicht, und die Künstleragentur war ja ein völlig unzuverlässiger Partner. Ständig war das Problem, dass wir Verträge mit Partnern im Westen hatten, aber im Zweifel erst einen Tag vor dem Gastspiel mitgeteilt bekamen, wir dürfen oder dürfen nicht fahren. Für mich war klar: Wenn man mir den Weg in den Westen verwehrt, mich in meinem Willen einschränken will, dann würde ich gehen. Das machte ich den Genossen klar.
Sie hätten damit leben können, Ihre sächsischen Wurzeln zu kappen – frei sein, aber ohne dieses Fundament?
Also, egal, zu welchem Orchester ich kam: Ob bei den Berliner Philharmonikern, den Münchner Rundfunkkollegen oder in Hamburg, überall traf man viele Sachsen in den Klangkörpern an. Aber Sie haben schon recht. Letztlich hat mich diese Verwurzelung hier gehalten. Ebenso der Zuspruch von vielen Musikliebhabern und manch schönes Schallplatten-Projekt bei Eterna. Wo finden sie solche große Traditionen wie bei unseren Chören und Orchestern? Die Quellenlage etwa in der Landesbibliothek ist reich und unerschöpflich. Das gibt man nicht leichtfertig auf.
Zehn Jahre Freiberufler in der DDR, dreißig im vereinten Deutschland. Was an Freiheit haben Sie neu erfahren oder sich abschminken lassen müssen?
Fast alles ist möglich, aber man muss unbeirrt kämpfen und Verbündete suchen, egal, wie viele Schwierigkeiten sich ergeben. Diesen Weg gegangen zu sein, das habe ich nie bereut. Es gab viele Stationen, wo ich ihn hinterfragt habe. Ich komme ja aus der erzgebirgischen Tradition einer relativ begrenzten Wahrnehmung. Aber meine Familienwurzeln reichen über ganz Europa bis nach Amerika. Deshalb kam ich an Punkte, wo ich mir Fragen stellte, aber nie zu 100 Prozent eine Antwort fand. Gastieren und Umherfahren hat ja auch etwas mit Erfahren zu tun. Ich habe es unheimlich bedauert und betrauert, als ich nicht mehr Philharmoniker war und eben nicht mehr Mahler und Bruckner mitmusizieren konnte. Dafür konnte ich etwa mit meinem Bach-Collegium ein sehr differenziertes Musizieren zum Maßstab machen und brauchte den Vergleich mit traditionsreichen und geschätzten Instrumenten wie etwa der Violine nicht zu scheuen. Das fanden nicht alle Kollegen gut. Der Preis war also nicht unbedingt immer ein Gewinnen.
Sie sind Musik-Fachmann, verblüffen aber mit großem Allgemeinwissen und Wissensdrang – wie das?
Tatsächlich, der Aufnahmekreis, den ich mir gewünscht und zugelassen habe, der ist sehr weit. Man soll ja schließlich seine Sinnesorgane dafür nutzen, so viel wie möglich von der Welt aufzunehmen. Nur dann kann man zu angenäherten positiven Ergebnissen kommen. Das war ja die Krux der DDR und besiegelte letztlich ihr Ende. Jeder Einfluss von außen sollte vermieden werden. Man kapselte sich ab, wollte störfrei sein. Ein Austausch wurde nicht als anregend und bereichernd angesehen. Aber man muss doch aus sich herausgehen, seiner Umgebung und seinem Wissen neue Horizonte öffnen, um zu neuen Einsichten zu kommen. Freilich ist es auch ein Wagnis und kann unbequem sein, oder es ergeben sich daraus neue Fragen und Herausforderungen.
Das Gespräch führte Bernd Klempnow.