Von Hubert Kemper
Frauen drängen auf Gleichstellung, und sie haben starke Verbündete in Brüssel. Tatsächlich unkt nun auch Roderich Kreile, Kantor des weltberühmten Dresdner Kreuzchores, er sehe die Gefahr, dass demnächst eine EU-Richtlinie auch die Ausschließlichkeit eines Knabenchores untersagen könnte. Es wäre das Ende einer Institution, die 2016 in Dresden ihr 800-jähriges Bestehen feiern wird. Als Kantor möchte Kreile die Tradition gern fortsetzen, kennt aber einige Gründe, die auch dagegen sprechen könnten.
Nein, man würde sie nicht heraushören können, sagt Kreile, dürften Mädchen in einem Knabenchor mitsingen. „Unter musikalischen Gesichtspunkten brauchten wir keine reinen Knabenchöre“, räumt er ein. Knabenstimmen sage man nach, sie ertönten etwas klarer und kräftiger, und ein Großteil der „alten Musik“ sei mit ihrer Klangmischung auf Knaben-und Männerstimmen ausgerichtet. Doch Kreile bezeichnet die Überhöhung des „Engelgleichen“ als Ideologie. Das werde Knabenstimmen nachgesagt, während dem lieblichen Gesang von Mädchen lediglich ein irdischer Platz zugebilligt werde.
Roderich Kreile ist heute 56 Jahre alt. Schon in seiner bayerischen Heimat hatte er stets gemischte Chöre geleitet, bevor er 1997 als 28. Kreuzkantor nach der Reformation in die Dresdner Reihe so berühmter Vorgänger wie Otto Richter, Martin Flämig und Rudolf Mauersberger trat. „Es gibt um Knabenchöre so viel Selbstverständlichkeiten“, stellt er fest und fragt zugleich: „Ist das richtig so?“ Kreile macht das bewusst provokativ, er verweist auf München. Da gibt es neben dem Knabenchor eine Mädchenkantorei und sogar eine Domkapellmeisterin. Und in englischen Kathedralchören bilden weibliche Stimmen einen guten Teil des Klangspektrums.
146 Jungen unter den rund 800 Gymnasiasten des Kreuzgymnasiums gehören dem Chor an. Ab dem achten Schuljahr endet für die Kruzianer der separate Unterricht. „Sittigende Wirkung“ hat einmal der frühere Schulleiter Stephan Noth den gemischten Klassen nachgesagt, vor allem mit Blick auf die Jungen. Wenn Mädchen unter sich bleiben wollen, werde das allerdings nicht hinterfragt, sagt Kantor Kreile. Schließlich laute die Begründung, sie vor Unruhe und Aggressivität der Jungen bewahren zu wollen. Die Vorstellung, dass Jungen in unserer weiblich geprägten Pädagogik „zu braven Mädchen“ erzogen werden könnten, sei jedoch zum Scheitern verurteilt.
Anders als Mädchen neigten Männer allen Alters zu „Rudelbildung, wo die Hierarchie eine Rolle spielt“, lautet Kreiles Erfahrung. In dieser archaisch tiefen Prägung fühlt er sich in der Rolle eines „Leitwolfes“, der auch die Suche der Jungen nach positiv besetzten Bezugspersonen erfüllen müsse. Offenbar gelingt das in einer Einrichtung, die die Stadt Dresden jährlich mit 2,6 Millionen Euro subventioniert. Der Kreuzchor gilt als eines ihrer Markenzeichen.
Dass nur rund ein Drittel der Kruzianer nach dem Abitur den Weg in die Musik findet, spreche nicht gegen die Investition, betont Kreile.
Die Vermittlung von Selbstdisziplin, Verantwortungsbewusstsein und sozialem Engagement stehen noch höher im Kurs als die musische Erziehung. Und die Pflege der Tradition. „Das ist etwas Kostbares“, sagt er. Als reiner Knabenchor sollten die Kruzianer möglichst weitere 400 Jahre erhalten bleiben. Aber wenigstens diskutieren möchte er die Frage mit den Mädchenstimmen, „bevor wir eventuell überrollt werden“. Vielleicht von der EU.