„Mama, ich gebe dich nicht ins Heim“

Frau Schneeberger, Sie schreiben, dass Ihnen die Entscheidung, Ihre Mutter zu pflegen, leicht gefallen sei. Warum?
Sie konnte nach einem schweren Schlaganfall, der auch noch falsch behandelt worden ist, nicht mehr sprechen und war rechtsseitig gelähmt, also komplett auf Hilfe angewiesen, rund um die Uhr. Weil nach meinen Erfahrungen in den Einrichtungen viel schiefläuft, wollte ich sie nicht in ein Heim geben. Meine Mutter war ja erst 61, hatte bis dahin gearbeitet und war im Kopf klar. Sie bekam also alles mit, wurde von Pflegekräften aber nicht verstanden. So passierten weitere schlimme Fehler, obwohl sie nur kurz im Heim war. Es hieß dann, sie habe nicht mehr lange zu leben. Ich war anfangs die Einzige, die auch ohne Worte mit ihr kommunizieren konnte. Ich wollte ihr friedliche letzte Monate zu Hause bieten. Daraus wurden zehn Jahre.
Ihren Job haben Sie weiter ausgeübt?
Ich habe nie daran gedacht, meine Arbeit aufzugeben, und darauf geachtet, mein Leben möglichst normal weiterzuleben. Das lag vielleicht auch daran, dass ich erst 29 war, als meine Mutter zum Pflegefall wurde. Abends habe ich meine Freundinnen zu uns eingeladen. Ich finde, Pflege sollte viel offener behandelt werden. Dann würden mehr Menschen lernen, dass Pflege nichts Schlimmes ist. Pflegende Angehörige sollten die Kontrolle über ihr Leben behalten.
Haben Sie zu keiner Zeit daran gedacht, die Pflege aufzugeben?
Im Gegenteil, ich musste eher dafür kämpfen, dass ich meine Mutter zu Hause pflegen kann. Bei einem so schweren Pflegefall mit höchster Pflegestufe ist das nicht vorgesehen und braucht erhebliche organisatorische Anstrengungen für die Zusammenarbeit mit Kassen, Behörden und – sobald nach fünf Jahren unser Geld aufgebraucht war – weiteren Leistungsträgern.
Welche Unterstützung erhielten Sie?
Wir haben von der Kasse einen Treppenlifter bekommen, mit dem ich sie im Rollstuhl ins Erdgeschoss hieven konnte. Den Rollstuhl mussten wir selbst bezahlen. Es war ein ständiger Kampf, verordnete Leistungen zu erhalten. Die Kasse hat einen Pflegedienst bezahlt, der aber nur zweimal am Tag kam, insgesamt für eine Stunde. Den Rest mussten wir selbst organisieren und finanzieren. Wir haben eine Pflegerin bezahlt für die Zeit, in der ich arbeiten war. Als unser Geld aufgebraucht war, hat die Stadt München im Rahmen der Sozialhilfe Mietanteil sowie Unterhalt für meine Mutter übernommen und den Lohn der Pflegerin für fünf Stunden pro Werktag bezahlt.
Woher wussten Sie, was Sie zu machen haben und ob das gerade richtig ist?
Unser Glück war, dass meine Mutter zu Beginn in eine sehr gute Reha kam. Physiotherapeuten, Logopäden und Pfleger haben mir gezeigt, wie man meine Mutter versorgt. Danach kannte ich alle Tricks: Wie man sie fast ohne eigenen Kraftaufwand in den Stuhl setzt. Wie man sie im Bett lagert, ohne Hautverletzungen zu bekommen. Ich lernte, was man ihr wie zu essen gibt, ohne dass sie sich verschluckt. Meine Mutter und ich haben die Rollen getauscht: Ich übernahm die Mutterrolle, sie die Kinderrolle. Diese enge Bindung darf man gerade in der Pflege nicht unterschätzen.
Wie kann man sich auf so eine Situation vorbereiten?
Jeder möchte selbstständig sein, solange es geht. Aber manchmal geht es eben nicht mehr. Sich darüber rechtzeitig Gedanken zu machen, Wünsche zu äußern, realistische Szenarien zu entwickeln, mit Familienangehörigen darüber zu sprechen – all das kann helfen. Wenn wir alle mehr darüber reden und die Themen Tod, Alter und Krankheit nicht mehr so stark tabuisieren, verlieren wir ein Stück weit die Angst davor und können selbstbestimmter leben und auch sterben. Auch ich hatte früher große Angst vor dem Tod, jetzt nicht mehr.
Sie erzählen von vielen schönen Tagen. Wann gab es solche Momente?
Das waren viele kleine Dinge im Alltag: Wenn ich meine Mutter morgens geweckt und ein bisschen mit ihr im Bett getanzt habe. Wenn ich abends nach Hause kam und meine Mutter die Arme nach mir ausstreckte. Wenn wir Fernsehen geschaut haben. Wenn wir im Café oder im Museum waren. Meine Mutter konnte sich über kleinste Dinge freuen und war deshalb auch ein einfacher und dankbarer Patient.
Was raten Sie anderen Familien?
Es reicht nicht, im Heim einen Tag der offenen Tür zu besuchen. Da präsentieren sich alle von der besten Seite. Besser ist es, mit Bewohnern zu sprechen oder mit Angehörigen, die dort zu Besuch sind. Ich rate zur Pflege zu Hause, weil sie so schön sein kann und Angehörige sich diese wertvolle letzte Zeit mit ihren Liebsten nicht nehmen lassen sollten. Aber dazu braucht es viel Organisation und Zusammenhalt der Familie. Wichtig ist es, rechtzeitig an Vorsorgevollmachten zu denken. Hilfe gibt es bei Anwälten oder Angehörigenverbänden.
Sie gehen hart mit dem Pflegesystem in Deutschland ins Gericht. Was sollte sich ändern?
Wir sollten uns auf die Pflege zu Hause konzentrieren. Denn es lebt nur ein Viertel der Pflegebedürftigen in Heimen, alle anderen werden zu Hause gepflegt. In Deutschland gibt es acht Millionen Menschen, die zum Teil neben ihrem Job zu Hause pflegen. Sie sollten Pflegediensten gleichgestellt werden und die gleichen Rechte wie Eltern mit Kindern erhalten – eine Art Kindergeld für Alte. Sinnvoll wäre auch, die Pflegekasse von einer Teilkasko zur Vollversicherung zu machen, so wie die Krankenversicherung. Natürlich müssten dafür die Beiträge steigen. Wir brauchen einen Aufstand der Angehörigen, damit diese Missstände endlich offen benannt und beseitigt werden. Immerhin leisten nach Berechnungen des VdK pflegende Angehörige die Arbeit von 3,2 Millionen Vollzeit-Pflegekräften und sparen dem Staat so rund 100 Milliarden Euro Lohnkosten.
Das Gespräch führte Gabriele Fleischer.