Von Anneke Hudalla
Soll man das nun Naivität nennen? Oder Verblendung? War es vielleicht die einzige Möglichkeit, um nicht verrückt zu werden vor Angst?
Martin Vesely ist ratlos. Seit zehn Jahren beschäftigt sich der 30-Jährige am „Institut für Slawische und Germanische Studien“ in Usti nad Labem (Aussig) mit der Militärgeschichte Nordböhmens. Trotzdem kann er sich manches noch immer nicht erklären: „Eigentlich hätte man in Aussig ahnen müssen, dass man früher oder später zum Ziel eines alliierten Luftangriffs werden würde“, sagt er. „Aber sogar die Stadtführung war offenbar überzeugt, dass der Kelch an Aussig vorübergehen würde.“ Ein fataler Irrtum: Als am 17.April gegen 14 Uhr die ersten amerikanischen Bomben im Zentrum von Aussig detonierten, war die 40 000-Einwohner-Stadt alles andere als vorbereitet.
Ein strategisch wichtiges Ziel
„Aussig war für die alliierten Streitkräfte ein wirklich wichtiges strategisches Ziel“, erklärt Vesely, „weil die Stadt nach der Zerstörung Dresdens über den einzigen noch funktionierenden Eisenbahnknotenpunkt verfügte.“ Im Frühjahr 1945 stand in Aussig nicht nur die letzte intakte Eisenbahnbrücke über die Elbe. Von hier aus fuhren auch die Züge nach Prag und in das für die Kriegsindustrie wichtige nordwestliche Böhmen. Dass den US-Streitkräften daran gelegen war, in Aussig die letzten Transportlinien der Wehrmacht zu zerstören, war also nicht sonderlich überraschend.
„Schon seit dem Sommer 1944 hatten die britische und die amerikanische Luftwaffe Pilsen, Komotau und immer wieder Maltheuern bombardiert, weil dort Firmen ansässig waren, die für die deutsche Kriegsmaschinerie von Bedeutung waren“, sagt Martin Vesely. „Auch in Aussig gab es im Frühjahr 1945 beinahe täglich Bombenalarm.“
Stundenlang mussten die Einwohner von Aussig tagtäglich in Luftschutzbunkern ausharren. Trotzdem reichte die Zahl der Plätze im entscheidenden Moment nicht aus. „Die Stadt hatte geplant, im Marienberg einen riesigen Luftschutzbunker für zehntausend Menschen zu bauen“, sagt Vesely. „Aber der war im April 1945 erst zu 60 Prozent fertiggestellt.“
In zwei Wellen greift die US-Luftwaffe die Stadt am 17. und 19. April an. Obwohl die Bomber vor allem auf den Bahnhof zielen, werden Teile der Innenstadt getroffen. „Wie Dresden war auch Aussig im Frühjahr 1945 überfüllt mit Zwangsarbeitern, Kriegsgefangenen und mit Flüchtlingen aus Schlesien“, sagt Martin Vesely. „Die Flüchtlinge waren teils in Privatwohnungen untergebracht, viele wohnten aber auch in Notunterkünften.“
Eines dieser Massenquartiere, die Tschechische Schule in der Salzstraße, wurde bei der zweiten Angriffswelle voll getroffen. „Wir wissen, dass allein dabei etwa 100 Menschen ums Leben kamen“, sagt Vesely. „Ansonsten ist die genaue Zahl der Opfer leider nicht mehr festzustellen.“ 514 Tote hat Vladimir Kaiser, der Aussiger Stadtarchivar, 1995 in mühsamer Kleinarbeit ausgemacht. Vesely hält diese Zahl aber für die absolute Untergrenze.
Gedenken ist nun erst möglich
Gedacht wurde der Bombardierung und ihrer Opfer im kommunistischen Usti bis 1990 nie. „Die unmittelbaren Zeugen der Bombardierung waren mit der Vertreibung der Deutschen ja weitgehend verschwunden“, sagt Vaclav Houfek, der Pressesprecher des Museums in Usti. „Außerdem war der Anteil der Amerikaner an der Befreiung Böhmens natürlich völlig tabuisiert.“ Zum 60. Jahrestag widmet das Museum der Bombardierung nun erstmals eine Ausstellung. Neben vielen Fotos und Texten (tschechisch und deutsch) werden auch zahlreiche Originalgegenstände wie Luftschutzhelme, Alarmglocken und sogar das Stanniolpapier gezeigt, das die US-Bomber vor dem Angriff abwarfen, um die deutschen Radarwellen abzulenken.
Museum Usti, Masarykova 3, 14. April bis 2. Juli, Di. bis Fr. 9 bis 17 Uhr, Sa. 10 bis 18 Uhr, Eintritt 15 Kronen (50 Cent).