„Manche Ärzte suchen so lange, bis sie etwas finden“

Er ist Arzt und zugleich einer der prominentesten Kritiker des deutschen Gesundheitssystems. In seinem neuesten Buch „Die Gesundheitslüge“ zeigt Dr. Martin Marianowicz, was schiefläuft – und wo dringender Reformbedarf herrscht. Die SZ sprach mit dem Facharzt für Orthopädie, Chirotherapie, Sportmedizin und Schmerztherapie aus München.
Herr Dr. Marianowicz, während der Corona-Krise wurde das deutsche Gesundheitswesen allseits bewundert und gelobt. Sie lassen in Ihrem neuen Buch an eben diesem System kaum ein gutes Haar. Ziemlich ungerecht, oder?
Deutschland ist mit der Corona-Krise zweifellos gut umgegangen. Das hat aber weniger mit dem Gesundheitssystem zu tun, sondern vor allem mit den Menschen und ihrer Disziplin. Die Ansteckungsraten waren vergleichsweise niedrig, die Kliniken standen leer.
Was läuft schief im deutschen Gesundheitssystem?
Es ist zu teuer und zu ineffizient. Innerhalb der EU zahlen die Deutschen am meisten für ihre Gesundheit – 407,4 Milliarden Euro im vergangenen Jahr! Da darf man doch erwarten, dass sich das auch in der Lebenserwartung widerspiegelt. Aber hier ist Deutschland in Europa nur unteres Mittelmaß, in der Welt liegen wir auf Platz 29.
Warum ist Gesundheit in Deutschland so teuer?
Das System ist überdimensioniert. Wir haben die meisten Geräte, die meisten Krankenhausbetten, die höchsten Ausgaben für Medikamente. Dazu kommt eine überbordende Verwaltung mit 150.000 Mitarbeitern. Das alles muss bezahlt werden.
Patienten haben eher den gegenteiligen Eindruck: Es wird zu viel gespart.
Der Eindruck entsteht, weil das viele Geld nicht an der richtigen Stelle ausgegeben wird. Das fängt bei der Diagnostik an. Wenn ein Mensch mit unkomplizierten Rückenschmerzen, also ohne neurologische Ausfälle, zum Arzt kommt, dann rät die Leitlinie von einer Kernspinuntersuchung ab. In der Praxis halten sich aber viele Kliniken nicht daran. Warum? In Deutschland gibt es 35 Kernspintomografen pro einer Million Einwohnern, in Großbritannien gerade mal 7,2. Damit sich die Anschaffung lohnt, muss sie genutzt werden – egal, ob das nötig ist oder nicht.
Dem Patienten und dem Arzt vermittelt es zumindest ein Gefühl von mehr Sicherheit.
Das mag sein. Aber aus medizinischer Sicht ist es unnötig und für uns alle teuer. Wohlgemerkt: Ich habe nichts gegen eine moderne Diagnostik. Aber sie muss zur Indikation passen. Häufig handeln Ärzte auch nach dem Prinzip „Find and fix“, also man sucht so lange, bis man irgendetwas findet, das man dann behandelt. Daraus resultiert das nächste Problem unseres Systems: Übertherapie.
Sie sagen, dass viele Erkrankungen auch konservativ geheilt werden können. Warum wird dann trotzdem so viel operiert?
Weil es viel mehr Geld bringt. Für eine Wirbelsäulenoperation gibt es etwa 10.000 Euro, für eine konservative Therapie im privatärztlichen Bereich rund 3.000 Euro. Und im kassenärztlichen Bereich nicht mal 50 Euro – im Quartal! Nebenbei: 40 Prozent der Patienten kehren nach einer OP in die Therapie zurück, und sie tragen ein viel höheres Risiko. Eine OP bedeutet immer Stress für den Körper, es kann zu Komplikationen kommen, es gibt die Gefahr von Krankenhauskeimen.
Warum werden Operationen so viel besser bezahlt?
Das hängt mit dem Vergütungssystem zusammen. In Deutschland werden Krankenhäuser nach dem sogenannten DRG-System bezahlt, ein Kompendium mit mehr als 3.000 Seiten. Es ist in dieser Form einzigartig auf der Welt, und hoch bezahlte Mitarbeiter in den Kliniken beschäftigen sich nur damit, aus jedem Fall das meiste Geld herauszuholen. Operationen sind in diesem System unverhältnismäßig hoch dotiert. Die Kliniken können nur dadurch überleben. Besonders lukrativ sind die Bereiche Orthopädie, Endoprothetik und Kardiologie. In Deutschland werden jährlich über 300.000 Herz-Stents implantiert, das sind zwei- bis dreimal mehr als in anderen Ländern. Studien zeigen, dass viele koronare Herzerkrankungen durchaus auch medikamentös behandelt werden können. Warum passiert das nicht? Eine Herzkatheteruntersuchung ohne Stent-Implantation bringt der Klinik etwa 650 Euro, mit Stent-Implantation dagegen rund 2.000 Euro.
Wie können Patienten beurteilen, ob ihr Arzt die für sie beste Entscheidung trifft?
Sie sollten kritisch sein. Fragen Sie Ihren Arzt, ob es nicht auch schonendere Therapien gibt, welche Risiken bestehen und ob es Ihnen danach wirklich besser gehen wird. Schauen Sie, wie oft der Arzt operiert. Wer schon 3.000 Bandscheibenvorfälle operiert hat, wird Ihnen ganz sicher keine konservative Therapie anbieten. Und es lohnt sich, auch einen anderen Arzt zu fragen. Holen Sie sich eine Zweitmeinung. Viele Kassen unterstützen das inzwischen ausdrücklich.

Angenommen, ich frage Sie nach Ihrer Zweitmeinung. Als konservativer Orthopäde sind Sie ja auch befangen. Würden Sie mir je zu einer OP raten?
Wenn es sinnvoll ist, dann rate ich auch zu einem Eingriff. Aber wie schon gesagt: Die Indikation muss stimmen. Ein Beispiel: 80 Prozent aller mittelgradigen Rückenbeschwerden können und sollten ohne Operation behandelt werden.
Das meiste Geld der Krankenversicherer fließt an die Krankenhäuser. Einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge könnte man mehr als die Hälfte schließen, ohne dass die Versorgung schlechter wird. Halten Sie das für realistisch?
Ja. Viele Krankenhaus-Patienten könnten genauso gut ambulant behandelt werden. Die Vielzahl der Krankenhäuser ist aber nicht nur eine finanzielle Frage, sondern auch die der Qualität. Viele Kliniken sind so klein, dass Abstriche an der Leistung unvermeidlich sind. Auch die Ausbildung der Ärzte ist oft nicht vergleichbar mit der in größeren Häusern.
Sachsen hat in den 1990er-Jahren viele dieser Krankenhäuser geschlossen. Warum passiert das nicht auch anderswo?
Eine große Anzahl befindet sich in kommunaler Hand, Politiker haben da naturgemäß eine gewisse Scheu. Außerdem verweisen sie darauf, dass Kliniken große Arbeitgeber sind.
Aber wird es denn auch billiger, wenn es weniger Krankenhäuser gibt? Es gibt dann ja nicht weniger Patienten.
Davon bin ich überzeugt. Einerseits werden viele Klinikpatienten generiert, damit das Krankenhaus überleben kann. Andererseits kosten ambulante Behandlungen nur einen Bruchteil im Vergleich zu den stationären.
Wenn die Ineffizienz des Gesundheitswesens so offen auf der Hand liegt: Warum tut die Politik nichts dagegen?
Die deutsche Politik hat das Gesundheitswesen in meinen Augen aufgegeben. Man übt zwar die Aufsichtspflicht aus, überlässt aber sonst alles der Selbstverwaltung. Und dort geht es vor allem um Besitzstandswahrung. Da denkt niemand über Einsparungen nach, sondern nur darüber, wie man noch mehr Geld bekommt, um es untereinander zu verteilen. Das wichtigste Gremium der Selbstverwaltung ist der Gemeinsame Bundesausschuss, in dem Vertreter der Krankenhäuser, Kassenärzte und Krankenkassen das Sagen haben. Patientenvertreter haben zwar ein Vorschlagsrecht, aber kein Stimmrecht.
Eine Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems ist das Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Krankenversicherern. Was würde es bringen, wenn es nur noch gesetzliche Kassen gäbe?
Ich denke, das würde sich lohnen. Vor allem, wenn es nur noch eine große gesetzliche Krankenkasse gäbe. Zurzeit haben wir über Hundert davon – mit über Hundert Vorständen und über Hundert Hauptverwaltungen. Außerdem müssten die Menschen die Möglichkeit erhalten, auch ambulante Leistungen privat abzusichern, die dann von den privaten Krankenkassen angeboten würden.
In Ihrem Buch kritisieren Sie auch die – im europäischen Vergleich – niedrige Lebenserwartung der Deutschen. Ist es nicht zu einfach, dem Staat dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben?
Das wäre in der Tat zu einfach. Wer jeden Tag zehn Bier trinkt, einen fetten Schweinebraten vertilgt und sich kaum bewegt, kann nicht den Staat für seine Krankheiten haftbar machen. Eigenverantwortung ist ohne Zweifel wichtig. Aber der Staat kann diese fördern, indem er mehr für die Prävention tut. Im Moment geben die Kassen gerade mal vier Prozent für die Prävention aus. Da ist noch viel Luft nach oben, die Digitalisierung bietet dafür riesige Möglichkeiten. Mut macht mir das Gefühl, dass die jüngere Generation viel aufmerksamer mit der eigenen Gesundheit umgeht.
Das Gespräch führte Steffen Klameth.
Das Buch „Die Gesundheitslüge“ von Martin Marianowicz ist ab Dienstag im Buchhandel erhältlich. 192 Seiten, Gräfe und Unzer, 19,99 Euro.